LEBENSLAUF
Prof. Dr. Heinrich Olschowsky, Westslawische Literaturen und Kulturen (Polonistik) an der Humboldt-Universität zu Berlin.
1939 in Nakel /bei Oppeln/ in einer Lehrerfamilie geboren, bis 1957 in Polen gelebt. Nach Abitur in Weimar (1959) Studium der Slawistik und Germanistik in Greifswald und Berlin (1960-65). Anschließend an der Akademie der Wissenschaften im Institut für Slawistik und im Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) tätig. Dort habe ich 1969 promoviert und mich 1979 habilitiert (Dr. sc.) mit der Monographie Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert (Akademie-Verlag 1979).
Arbeitsgebiet: Polnische Literatur und Kultur sowie deutsch-polnische Literaturbeziehungen unter kommunikativem und komparativem Aspekt. Mein besonderes Interesse gilt Fragen der modernen Lyrikentwicklung, der osteuropäischen Avantgarde (Der Mensch in den Dingen, Reclam Verlag, Leipzig 1986) und dem Problem nationaler Stereotypen und des kollektiven Gedächtnisses in der Literatur. Die Forschungsergebnisse schlugen sich u. a. in verschiedenen Gemeinschaftsprojekten nieder, z.B. im Lexikon Literaturen Ost- und Südosteuropas (Leipzig 1990) oder dem die Staatenbezeichnung sorgsam vermeidenden Sammelband Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum 1945-1985 (Darmstadt 1988).
Die Akademie erwies sich als eine Nische. Ich konnte dort als Parteiloser in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin arbeiten, in der SED-Mitgliedschaft gemeinhin zur Voraussetzung gehörte. Fachliche Kontakte waren nur nach Osten hin möglich; zur Polnische Akademie der Wissenschaften, zu den Universitäten in Warschau, Krakau und Posen – nach Moskau, Bratislava und Budapest. Kontakte zu den Zeitschriften Znak, Tygodnik Powszechny, Więź, Polityka geknüpft.
Neben der Forschung habe ich mich als Literaturkritiker, Herausgeber und Übersetzer intensiv der Vermittlung polnischer Literatur gewidmet. Dabei war ich bemüht durch Edition und publizistische Begleitung bestimmter Werke, die ideologische Abschottung der DDR-Öffentlichkeit mit „unfrisierte Gedanken“ aus Polen zu unterlaufen. Meine diesbezüglichen Bemühungen fanden von polnischer Seite Anerkennung: „Goldenes Verdienstkreuz“ (1974), L’Ordre du Merite culturel (1975) „Offizierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen“ (2005).
1988, nach vierjähriger Vakanz des Lehrstuhls für Polonistik an der Humboldt-Universität wurde ich auf diesen berufen und nach dem HRG 1993 bestätigt. Am Fachbereich Fremdsprachliche Philologien war ich Prodekan (1990-92) und Dekan (1992-94) und als solcher in die Neustrukturierung des Fachbereichs involviert.
In der DDR spielte sich mein gesellschaftliches Engagement außerhalb offizieller Strukturen ab: Akademikerarbeit in beiden christlichen Kirchen, Friedenskreis Pankow, 1989 Mitglied im „Neuen Forum“.
Seit April 1990 Berater von Außenminister Markus Meckel und designierter Botschafter der Regierung de Maizière in Warschau. Ein Amt, das ich wegen des Termins der deutschen Wiedervereinigung nicht mehr angetreten habe.
Im Oktober 1990 hielt ich in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. die Laudatio auf Karl Dedecius, den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, 1997 für den Erich-Brost-Preisträger, Stefan Chwin, („Hanemann“) in Danzig. Von 1991-97 Präses der Societas Jablonoviana (Leipzig), seit 1992 Mitglieder Academia Scietiarum et Artium Europaea (Sitz: Salzburg). Mitarbeit in der Stipendien- Kommission des DAAD (1994-97) und ein reichliches Jahrzehnt (1992-2003) gehörte ich der Jury des gemeinsamen Preises der Außenminister Deutschlands und Polens an.
Nach der Emeritierung an verschiedenen kulturwissenschaftlichen Projekten beteiligt: „Wir Berliner! My, berlinczycy. Geschichte einer polnisch-deutschen Nachbarschaft“. Hg. Robert Traba (Leipzig 2009), Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Band 3: Parallelen. Hg. Hans H. Hahn, Robert Traba (Paderborn 2012)
Weitere Bücher als Mitherausgeber und Autor
- Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten. Anthologie 1975 (mit Henryk Bereska)
- Literatur Polens 1944-1985. Einzeldarstellungen (1990)
- Im Dissens zur Macht (1995)
- Das Jahr 1956 in Ostmitteleuropa. Politik, Kultur, Literatur (1996)
Aufriss einer Biographie. Gespräch mit Dr. Robert Żurek
Heinrich Olschowsky wurde 1939 im oberschlesischen Nakel bei Oppeln geboren. Nach der Übersiedlung in die DDR 1957 machte er das Abitur in Weimar und studierte (nach einem „Jahr in der Produktion“) Germanistik und Slawistik in Greifswald und Berlin. Im Anschluss an das Studium 1965 nahm er an der Akademie der Wissenschaften eine Aspirantur wahr und war danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.
Olschowsky promovierte 1969 über das poetische Werk von Tadeusz Różewicz und habilitierte 1979 über die polnische Lyrik im 20. Jahrhundert. 1988 wurde er auf den Lehrstuhl für Polonistik am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität in Berlin berufen, den er bis zur Emeritierung 2005 innehatte. Neben der Forschung und Lehre war er jahrelang als Literaturkritiker, Nachwortautor, Übersetzer und Herausgeber polnischer Literatur tätig.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre engagierte sich Olschowsky in der Oppositionsbewegung der DDR. Im Sommer 1990 war er Mitarbeiter im Außenministerium der ersten nichtkommunistischen Regierung der DDR. Nominiert zum Botschafter in Polen, kam die Amtsübernahme im September 1990 nicht zustande, weil die Regierungskoalition zerbrochen ist und der Vereinigungstermin beider deutscher Staaten auf den 3. Oktober festgelegt worden war.
Heinrich Olschowsky ist Autor zahlreicher Beiträge zur polnischen Literatur, Kultur und Geschichte. Er ist Vorstandsmitglied der Societas Jablonoviana in Leipzig und gehört der Academia Scientiarum et Artium in Salzburg an, war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig und des Kuratoriums des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt.
Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Berlin. Auszeichnungen: Das Goldene Verdienstkreuz der VR Polen (1974), Medaille der Societas Jablonoviana (1980), Offizierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen (2005)
Herr Professor Olschowsky, Ihr Nachname weist auf polnische Vorfahren hin.
Ich komme aus dem Oppelner Schlesien, einer Region, in der Namen wenig über die nationale Identität aussagen. Mein Vater war zur deutschen Zeit Lehrer und stammte aus der Nähe von Gleiwitz. Meine Mutter war in Kattowitz geboren. In meinem Elternhaus sprach man kein Polnisch. Nach dem Krieg, als wir noch ein Jahrzehnt in Oberschlesien lebten, hatte Vater es notdürftig gelernt.
Die Eroberung der deutschen Ostprovinzen durch die Rote Armee erscheint in der Erinnerung vieler Deutschen als ein dramatischer Einschnitt in der Biographie. Sie waren damals fünf Jahre alt. Können Sie sich an die damaligen Ereignisse noch erinnern?
Auch in meiner Erinnerung bleibt es ein beispielloser Einbruch. Als die Front im Januar 1945 Schlesien erreichter, wurde mein Vater zum Volkssturm eingezogen. Meine Schwester, die älteste unter den Geschwistern, war bereits im Herbst 1944 zusammen mit ihrer Klasse eines Mädchengymnasiums zum Arbeitsdienst beordert worden. Der 21. Januar 1945 bildet eine Zäsur in der Familiengeschichte. An diesem Tag ist die Mutter mit uns vier Brüdern von einer benachbarten Staffel der Luftwaffe evakuiert worden. Wir wurden in dem sagenhaft strengen Winter auf einen Lastwagen gepackt, und fuhren in Richtung Breslau. Das Auto wurde mit Holzgas betrieben, an den besonderen Gestank meine ich mich noch zu erinnern. Nach Breslau wurden wir nicht eingelassen, es hieß, die Stadt bereite sich als Festung vor. Also wurden wir nach Striegau umgeleitet und dort war Schluss. Ende der Fahrt, „seht zu, wie ihr weiterkommt“. Einige schafften es noch, sich in die total überfüllten Züge hineinzupressen, die in westlicher Richtung fuhren. Unsere Mutter mit den vier Kindern hatte da keine Chance. So blieb nur das andere Ziel: Waldenburg. Dort wohnte ihre Schwester, unsere Tante. Bis Schweidnitz fuhren wir mit einem Pferdeschlitten und weiter liefen wir zu Fuß.
Zwischen Schweidnitz und Waldenburg sind es etwa 18 Kilometer.
Nach dem kopflosen Aufbruch, dem Chaos und der Erschöpfung der Fahrt in der besagten Kälte war es ein Horrortrip. Die Tante wusste natürlich nichts von unserem Kommen. Plötzlich klingelte es an der Tür und der Haushalt wurde um fünf Personen reicher. Wir waren zu viele in der kleinen Wohnung, so wurde die Stimmung mit der Zeit gereizt. Hinzu kam die schlechte Lebensmittelversorgung. Solange das deutsche System der Rationierung noch intakt war, das heißt bis zum Tag der Kapitulation am 8. Mai, ging es einigermaßen, weil man auf die Lebensmittelkarten noch irgendetwas bekam. Als aber Waldenburg nach der Kapitulation von den Sowjets eingenommen wurde, fing eine schlimme Zeit an. Nicht nur wegen der Lebensmittelknappheit und des Hungers. Die meisten Männer waren zum Militär eingezogen, in den Häusern, auch bei uns, blieben nur Frauen, Kinder und Greise. Nächtens spielten sich in der Bergarbeitersiedlung furchtbare Szenen ab. Betrunkene Sowjetsoldaten, die in diesem Zustand unberechenbar waren, unternahmen Raubzüge auf Frauen. Mir haben sich diese Nächte, die Alarmsignale und Hilfeschreie aus den Nachbarhäusern, das Gefühl des Ausgeliefertseins tief in der Erinnerung eingeprägt. Ein traumatisches Erlebnis; noch jahrelang hatte ich als Kind eine panische Angst vor „den Russen“.
Wie ging es weiter?
Wir blieben in Waldenburg, von Januar bis im November, als unser Vater, der uns dort vermutet hatte, überraschend erschien. Als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg war er im Zweiten zurückgestellt und erst im Januar 1945 zum Volkssturm eingezogen worden. Er geriet In sowjetische Gefangenschaft geraten, kam ins Lager Auschwitz, das weiterhin genutzt wurde, jetzt für deutsche Kriegsgefangene. Ort einer grausigen historischen Lektion. Zum Glück wurde mein Vater schnell entlassen. Als er zu uns stieß, war guter Rat teuer. Inzwischen war die sowjetische Administration von der polnischen abgelöst worden. Über die Zukunft herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Wohin sollten meine Eltern gehen? Sie gingen mit uns zurück nach Hause, von Waldenburg (nun Wałbrzych) nach Nakel (Nakło). Für über zehn Jahre.
Grundsätzlich wurden die Deutschen aus den so genannten „Wiedergewonnenen Gebieten“ ausgesiedelt, wenn Ihre Familie in der Heimat bleiben durfte, dann wohl deshalb, weil Sie als zu repolonisierende „Autochthonen“ betrachtet wurden?
So war es wohl. Im Oppelner Schlesien war die Aussiedlungsstrategie nicht so radikal wie etwa in Niederschlesien, weil man die einheimische oberschlesische Bevölkerung für mehr oder weniger germanisierte Polen hielt, die für das Polentum zu gewinnen waren. Die Lage unserer Familie stellte sich aber komplizierter dar, mein Vater war als Lehrer deutscher Staatsbeamter, und alle Beamtenfamilien waren auszusiedeln. Dazu kam aber der polnische Name, was in den Augen der Verifizierungskommission den deutschen Lehrer als einen “Verräter“ an der nationalen Raison Polens qualifizierte. Wie löst man ein solches Dilemma? Man bestimmte, dass der Vater als Strafe gleichsam ausgewiesen wird, die Familie mit den vier Söhnen aber bleibt Die Eltern machten Bittgänge, suchten angesehene Personen des Ortes auf, die für sie ein gutes Wort einlegen konnten, um dem Zerreißen der Familie zu entgehen. Und das gelang. Der Vater durfte, und wir alle mussten bleiben.
Wie war es für eine deutsche Familie, plötzlich in einem polnischen Staat zu leben?
Es war für uns nicht einfach. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie national vergiftet die Atmosphäre damals war. Die Polen und die polnisch gesinnten Oberschlesier reagierten ihre Demütigungen aus der Zeit der Naziherrschaft und des Krieges ab. Die Opfer von gestern waren nun die Sieger und übten mentale Vergeltung an der deutschen Bevölkerung, die man in dem erweiterten eignen Machtbereich vorgefunden hat. Alles Deutsche, besonderes die Sprache, unterlag im öffentlichen Raum einer rücksichtslosen und für selbstverständlich erachteten Diskriminierung. Die Lebensumstände einer deutschen Familie waren entsprechend schwierig.
Der Lehrerberuf war damals viel stärker als heute mit einem sozialen Status verbunden, besonders auf dem Lande. Nach 1945 war damit Schluss. Mein Vater arbeitete zuerst im Steinbruch eines Kalkwerks. Als er nach einiger Zeit körperlich zusammenbrach, steckte man ihn ins Lohnbüro. Das war natürlich ein sozialer Abstieg für ihn, den er nur schwer verkraftete. Ein bisschen von der alten sozialen Geltung erlangte er nach einiger Zeit über die katholische Kirche zurück. Denn zur deutschen Zeit, also bis 1945, war er nicht nur Lehrer, sondern auch Organist. Nach dem Krieg durfte er auch diese Tätigkeit zunächst nicht fortsetzen, als sich aber die Situation nach ein paar Jahren entkrampfte, spielte er wieder die Orgel und baute den Kirchenchor auf.
Am schwierigsten war die Lage meiner Mutter. Da sie kein Polnisch sprach und es nicht wagen konnte, in der Öffentlichkeit Deutsch zu reden, war sie isoliert und radikal aufs Häusliche beschränkt.
Meine drei Brüder waren bereits alle in die deutsche Schule gegangen. Zwei von ihnen wurden sofort in die entsprechende Klasse der polnischen Schule gesteckt, obwohl sie kein Polnisch konnten. Dennoch fanden sie sich bald zurecht. Wohl am einfachsten war die Lage für mich. Zwar verstand auch ich nichts, als ich zum ersten Mal in der Schule erschien, aber es war die erste Klasse, und da lernt man die Sprache schnell. Ich hatte in der Grundschule gute Noten, so dass ich später ein Gymnasium mit pädagogischer Ausrichtung (Liceum Pedagogiczne) besuchen konnte. Vielleicht wollte ich dem Beispiel meines Vaters folgen.
Wie waren Ihre Erfahrungen mit den polnischen Lehrern und Schülern in der Grund- und Mittelschule?
In der Grundschule hatte ich eher sehr verständige Lehrer, vor allem den Schulleiter, der aus dem seit 1922 polnischen Teil Oberschlesiens stammte, also die Situation vor Ort kannte und unsere Probleme nachvollziehen konnte. Als ich einmal auf dem Schulhof heulte, weil ich von den Mitschülern auf Polnisch gehänselt wurde, was ich nicht verstand, nahm er mich zur Seite und beruhigte mich.
Auch am Gymnasium waren die meisten Lehrer tolerant, das heißt, sie übersahen einfach mein Anderssein, wenn es ihnen denn aufgefallen war. Denn lange hielten sie mich meines Namens wegen für einen aus Zentralpolen Zugezogenen und nicht für einen „Autochthonen“. Spätestens beim Elternsprechtag erfuhren sie, dass ich aus einem deutschen Elternhaus stammte. Der erste Klassenlehrer, der das Fach Russisch vertrat, stammte aus Ostpolen und hatte von den Gegebenheiten Oberschlesiens keine Ahnung. Er war ein schlechter Pädagoge und ein bornierter Parteimann, für den Schlesien ein fremdes Terrain blieb. Als er auf sein zudringliches Befragen hin erfuhr, dass ich zuhause Deutsch spreche, stellte er im Lehrerkollegium die Frage, wie es denn zu erklären sei, dass jemand mit solch einem Namen sich für einen Deutschen hält und dabei gute Noten in Polnisch sammelt. Sein Schluss: Da müsse die „Fünfte Kolonne“ am Werk sein! Übrigens ein Beleg dafür, wie gut sich Nationalismus und Stalinismus vertrugen. Heute könnte man darüber lachen, aber 1953/1954 glich das einer Denunziation und war gar nicht komisch.
Mit dem nachfolgenden Klassenlehrer, einem Absolventen der Universität Wrocław, blieb ich zeit seines Lebens befreundet, er besuchte mich mehrfach in Berlin, ich ihn in seinem Elternhaus bei Rzeszów.
Auch wenn sich die meisten Lehrer neutral bis freundlich verhielten, erlebte ich in dieser Zeit einen mir aufgezwungenen Identitätskonflikt; der begann mit dem Namen. Schule, Gesellschaft, Kirche versuchten aus mir etwas zu machen, was ich nicht war, nämlich einen Polen. Nicht offen der sein zu dürfen, der man ist, das erzeugte einen Zwang zur Verstellung und psychische Traumata.
War dieser Drang zur Zwangspolonisierung ein allgemeiner Trend, mit dem Sie ständig konfrontiert wurden, oder beteiligte sich daran nur ein Teil der polnischen Gesellschaft, während die anderen Ihre deutsche Identität akzeptierten?
„Re-polonisierung“ war die offizielle Doktrin und das „patriotische Gebot“ des staatlichen wie des kirchlichen Handelns. Das streng exekutierte Verbot (des Gebrauchs und des Unterrichts) der deutschen Sprache in Schlesien wirkte einschüchternd, nur eben nicht zu allen Zeiten gleichermaßen, und nicht jeder hielt sich daran. Der polnische Priester, der die Pfarrgemeinde in Nakel/ Nakło 1955 übernahm, merkte bald, dass er viele deutschsprachige Pfarrkinder hatte. Was machte er? Er lernte Deutsch, um die Menschen besser betreuen zu können. Das war aber eher eine Ausnahme. Im Allgemeinen gingen die Instanzen und mit ihnen die meisten Polen davon aus, dass es in Oberschlesien keine Deutschen gibt, höchstens oberflächlich germanisierte Polen. Wenn diese nicht wünschten „polonisiert“ zu werden, wurden sie als Abtrünnige bzw. feindliche Elemente stigmatisiert.
Sie erwähnten, dass Ihre Schwester im Herbst 1944 zum Arbeitsdienst eingezogen wurde. Kam sie irgendwann nach Hause?
Die ersten drei Jahre wussten wir nicht, wo sie ist, und ob sie überhaupt noch lebte. Erst spät erfuhren wir, dass sie nach einer langen Odyssee durch ganz Deutschland und Österreich am Ende in Weimar gelandet war. Dort ließ sie sich nieder. Die Erlaubnis, uns in Oberschlesien zu besuchen, erhielt sie erst 1955, über zehn Jahre nach dem Abschied. Für uns alle war das ein einschneidendes Erlebnis; ein Mädchen hatte uns verlassen und eine Frau kam zurück. 1956 reiste sie noch einmal an, zum Begräbnis des Vaters, der durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Zu seinem Begräbnis erschien unerwartet auf Anregung des Klassenlehrers meine ganze Klasse des Oppelner Lyzeums, das war sehr bewegend für mich und die Familie.
Sie lebten in Ihrer Heimat, aber in einem fremden, kommunistischen Staat, der die Identität der Deutschen und anderer nationaler Minderheiten nicht respektierte, sondern eine Politik der nationalen Gleichschaltung betrieb. Hinzu kam die gespannte materielle Situation. Letzten Endes stellten Sie, wie viele andere Deutsche, einen Antrag auf Ausreise nach Deutschland.
Den Antrag stellten wir irgendwann in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, aber es war zwecklos. „Wir werden doch nicht vier junge Männer in die Bundesrepublik ausreisen lassen, und die „westdeutsche Wehrmacht“ stärken“, hörte mein Bruder von irgendeinem Staatsbeamten. Erst im Zuge der Entstalinisierung lockerten sich die Ausreisemodalitäten. Allerdings für uns nicht in die Bundesrepublik, sondern in die DDR. Als erleichternd erwies sich, dass die Schwester in Weimar lebte. Aus diesem Grund fiel unsere Ausreise unter das Programm der „Familienzusammenführung“.
Wie waren die Anfänge in Weimar?
Beglückend und beschwerlich zugleich. Eine jahrelange Sehnsucht hatte sich erfüllt; die Familie war in Deutschland angekommen. Angestaute Emotionen erhielten freien Lauf; endlich der sein zu dürfen, der man war, löste eine Art Euphorie aus. Andrerseits waren meine Deutschkenntnisse auf ein häusliches Idiom beschränkt, dem das schulische Fachvokabular fehlte. Meine Orthographie war miserabel, zuhause redet man schließlich miteinander, man schreibt sich doch nicht. Ich wurde in der Weimarer Schiller-Oberschule um eine Klasse zurückgestuft. Und das war in Ordnung.
Als beschwerlich erwies sich die Ideologie. In Polen hatte ich gerade noch den Umbruch von 1956 erlebt; das Ende der verlogenen stalinistischen Rituale in der Schule, es war ein Befreiungserlebnis. Auf einmal herrschte eine ganz andere Atmosphäre zwischen Lehrern und Schülern, das war erstaunlich. Und nun kam ich in die DDR, wo diese Rituale unangetastet geblieben sind. Ich musste an ätzenden Fahnenappellen teilnehmen, das war abstoßend. Mit der FDJ ließ man mich vorerst in Ruhe, nachdem ich gesagt hatte, dass ich einer Organisation nicht beitreten kann, über die ich gar nichts weiß.
Trotz der Anfangsschwierigkeiten in der Schule bestanden Sie das Abitur und fingen das Hochschulstudium an.
Glatt und einfach ging das nicht. Ich wollte unbedingt Germanistik studieren, bekam aber keinen Studienplatz. Das war frustrierend, ich wusste nicht, was ich anfangen soll und griff dann zu einem Mittel, das die DDR „großzügig“ Abiturienten anbot, denen ein direkter Studienplatz verweigert wurde: dem „Produktionsjahr“. Ich nahm die Beschäftigung als Hilfsarbeiter in einem Kfz-Betrieb auf, und der Betrieb durfte seine Mitglieder zum Studium delegieren. So wurde ich nach einem Jahr als „Vertreter der Arbeiterklasse“ zum Studium delegiert: Slawistik / Germanistik, in dieser Reihenfolge. Beworben hatte ich mich in Leipzig, den Studienplatz bekam ich in Greifswald.
Sie entschieden sich für Germanistik, wurden dann aber vor allem als Slawist über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Bedeutet Ihre Entscheidung für die Germanistik, dass Sie zum damaligen Zeitpunkt mit Polen nichts zu tun haben wollten?
Germanistik war mein erster Wunsch, weil ich etwas nachholen wollte. Aber der Kontakt nach Polen riss eigentlich niemals ab. Noch in der Weimarer Oberschule korrespondierte ich zum Beispiel mit den Schülern aus der alten polnischen Klasse. Sie schickten mir Zeitschriften zu, unter anderem das Magazin „Film“. Damit machte ich unter den Weimarer Mitschülern Furore, weil in der Zeitschrift Westschauspieler abgebildet waren und über westliche Filme berichtet wurde, die man in der DDR nicht sehen konnte. Nichtsdestotrotz: Anfänglich dachte ich in der Tat nicht daran, mich beruflich mit Polen oder der polnischen Literatur zu befassen. Als ich aber im Kfz-Betrieb arbeitete, machte ich nebenbei einen Französischkurs an der Volkshochschule. Und ein kluger Lehrer riet mir, dass ich von der Biografie her nicht nur Germanistik, sondern auch Slawistik studieren sollte. Diese Kombination war aussichtsreicher, wenn auch anstrengend. Ich entschied mich dennoch dafür. Ein Problem war aber, dass der Schwerpunkt in der Slawistik auf dem Russischen lag, während ich mich vor allem mit dem Polnischen beschäftigen wollte. Nicht nur meiner Biografie wegen, sondern weil ich zunehmend begriff, dass in Polen seit 1956 eine andere Art Literatur geschrieben und gepflegt wurde als in der Sowjetunion oder in der DDR.
Mit der Begründung, dass ich Polonistik als Spezialisierung innerhalb der Slawistik wählen wollte, durfte ich nach einem Studienjahr von Greifswald nach Berlin wechseln, wo die Polonistik stark vertreten war. Wobei ich nicht nur aus diesem Grund nach Berlin wollte. Der andere Grund war, dass der Westteil der Stadt damals noch offen stand. Bis ich ankam. Ich wechselte im Herbst 1961 nach Berlin, im August war die Mauer errichtet worden. Und ich hatte mich so auf Kinobesuche in Westberlin gefreut…
Hatten Sie nicht die Versuchung in den Westen zu fliehen, als die Grenze noch offen war?
Ich kann mich an meine damalige psychische Verfassung noch ziemlich gut erinnern. Die Versuchung war schon da, aber ich hatte innerlich mit dem einen Wechsel genug zu tun, um noch einen anderen zu wagen. Mein drängendes Motiv war, in Deutschland zu leben, und nicht unbedingt einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Hinzu kamen noch familiäre Gründe. Da der Vater nicht mehr da war, rückte die Familie enger zusammen. Einer meiner älteren Brüder ging zwar bald nach der Übersiedlung aus Polen in den Westen, aber er tat es deshalb, weil er in der DDR nicht Fuß fassen konnte. Sein polnisches Abitur wurde nicht anerkannt, er wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen soll.
Später wandelte sich das Motiv für das Hier bleiben. Es mag pathetisch klingen, aber ich war sicher nicht allein, der sich fragte, wem überlässt man diesen Teil Deutschlands, wenn man weg geht – der SED und ihren Mitläufern, den Sowjets?
Wie haben Sie die Studienzeit in Berlin in Erinnerung?
Vor allem erinnere ich mich daran, dass ich die vielfältigen Bildungs- und Kultureinrichtungen nutzte, die es in Berlin gab. Die 60er Jahre waren eine gute Zeit des Theaters. Das Berliner Ensemble zehrte noch immer von der besonderen Aura Brechts, das Deutsche Theater, die Volksbühne und die Komische Oper sorgten für aufregende Inszenierungen, die zu kulturellen Ereignissen wurden. Zu einer wichtigen Adresse für mich wurde das polnische Kulturzentrum an der Weidendammbrücke. Dort saß ich oft, las Zeitungen und Zeitschriften oder sah neue Filme, darunter solche, die nie in die DDR-Kinos kamen. Das Kulturzentrum war eine permanenten Quelle, die es mir ermöglichte, auf dem Laufenden zu bleiben. Dabei wurde mir immer deutlicher, wie anders das kulturelle Leben in Polen als das in der DDR ablief. Später ließ sich der Unterschied auch empirisch fassen: Nach 1956 gab es in der DDR eine etwa zehnjährige Quarantäne für neue polnische Bücher, weil sie als verdächtig revisionistisch galten. Roman Bratnys Roman über die AK-Jugend und den Warschauer Aufstand „Kolumbowie, rocznik 20“/ Kolumbus Jahrgang 20/ erschien zwar in der DDR, aber erst 21 Jahre (!) nach der polnischen Erstausgabe. Solche und andere unerwünschte Bücher lasen und diskutierten wir teilweise im Studium, wie z.B. den antiideologischen Roman „Bramy raju“/Die Pforten des Paradieses/ von Jerzy Andrzejewski. Das begeisterte uns Studenten.
Polonistik als ein Raum der Freiheit in der DDR?
Jede Verallgemeinerung erscheint übertrieben, aber für mich persönlich war sie das, und wohl auch für viele interessierte Studenten. Es gab damals eine aktuelle Debatte über die Krise des Romans. Diese Debatte bewegte die literarische Welt, und auch in Polen beteiligte man sich daran. In der DDR durfte es natürlich niemals eine Krise geben , nicht einmal eine Krise des Romans. Während einer Diskussion bei den Germanisten, bei der die Modalitäten einer solchen Krise als bourgeoise Erfindung verneint wurde, meldete ich mich zu Wort und erklärte, dass es im befreundeten sozialistischen Ausland, zum Beispiel in Polen, offenbar andere Erfahrungen gebe. Ein Slawistik-Dozent sagte mir später unter vier Augen, ich sollte vorsichtiger sein, denn die Polonistik insgesamt werde ideologisch beargwöhnt.
Ein anderer, echter Raum der Freiheit war für mich die katholische Studentengemeinde. Dort konnte man ehrlich, ohne ideologische Selbstzensur miteinender umgehen und in einer Atmosphäre des Vertrauens unterschiedliche Ansichten austauschen. Inspirierend waren auch die Westkontakte dieser Gemeinde. Selbst nach dem Mauerbau kamen Referenten aus dem Westen zu unseren Veranstaltungen. Sie durften nach Ost-Berlin einreisen, mussten allerdings vor Mitternacht wieder im Westen zurück sein. So besuchten uns viele namhafte Personen; Wissenschaftler, Künstler, Seelsorger.
Die Machthaber ließen es zu?
Ja, offenbar wollte man den Anschein erwecken, man sei gegenüber den Besuchern aus dem Westen tolerant, sofern diese sich an die Regeln der DDR halten. Und schließlich war die katholische Kirche eine Minderheit, so durfte dieses Zugeständnis als unbedenklich eingestuft worden sein.
Nach dem Studium fanden Sie Anstellung an der Akademie der Wissenschaften.
Während des Studiums machte ich ein Praktikum im Aufbau-Verlag und traf eine feste Verabredung mit dem Verlag, dass ich nach dem Studium dort arbeiten würde. Aber im letzten Augenblick bot mir das Institut für Slawistik der Akademie eine Aspirantur an. Das war nichts anderes, als ein Doktorandenstipendium. Der Vorteil war, dass man keine weiteren Verpflichtungen hatte, als seine Dissertation zu schreiben. Ich zögerte nicht lange.
Sie promovierten über das lyrische Werk von Tadeusz Różewicz.
Ja, das war auch der Anlass, Różewicz persönlich kennenzulernen. Ich war, wie ich von ihm erfuhr, der erste Ausländer, der über ihn promovierte.
Und was machten Sie nach der Dissertation?
Ich blieb an der Akademie, war Mitglied der Forschungsgruppe Literaturen Ostmitteleuropas, arbeitete an meiner Habilitation, einer Monographie über die polnische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig pflegte ich Arbeitskontakte mit verschiedenen Verlagen. Und in den Verlagen gab es Leute, die authentisch daran interessiert waren, was in Polen kulturell passierte. Der Mitteldeutsche Verlag in Halle-Leipzig zum Beispiel, der eigentlich nur deutsche Gegenwartsliteratur veröffentlichte, lud mich ein, um sich mit mir einen ganzen Tag über die kulturellen Trends in Polen zu unterhalten. Auf der Welle dieses Interesses, besonders in den 70er Jahren, wurde ich um Gutachten ersucht, welche polnischen Bücher übersetzt werden sollten.
Und Sie versuchten dabei auch politisch mutige Bücher für die Übersetzung zu empfehlen.
Was heißt mutig? Es reichte, dass sie im hiesigen Kontext unbequem waren. Aber natürlich mussten sie auch literarisch interessant sein, ansonsten hätte man die Empfehlung schwer begründen können.
War es nicht ein gefährliches Spiel? Irgendwann hätte Ihnen doch jemand vorwerfen können, Sie hätten ein konterrevolutionäres Buch für die Verbreitung in der DDR empfohlen.
Das Gutachten konnte einen Titel lancieren. Ob das Buch dann erschien, darüber entschied man letztlich im Kulturministerium. Für die kulturellen Beziehungen zu Polen war das Jahr 1956 eine entscheidende Weichenstellung. In der Wochenzeitung „Sonntag“ erschienen 1956 Texte, die die Veränderungen in Polen spiegelten; Kazimierz Brandys, Andrzej Kijowski, Leszek Kołakowski, Adam Ważyk… Bis die SED-Führung dreinschlug und die Redaktion verhaftete. An diesem Beispiel sieht man den Unterschied zwischen Polen und der DDR. Gomułka ließ die regimekritische Zeitschrift „Po prostu“ schließen, Ulbricht sperrte die Redakteure des „Sonntag“ ein. Zehn Jahre, sieben Jahre, vier Jahre, lauteten die Urteile. Und der Anlass war unter anderem das Interesse für den “polnischen Oktober“.
Zu meiner Zeit herrschte schon ein anderes Klima. Das letzte Wort darüber, ob ein Buch erscheint, lag nicht beim Verlag. Die Verlagsleute setzten sich für die Übersetzung dieses oder jenes Buches ein. Wenn sie aber zu der Ansicht gelangten, dass der Stoff zu brenzlig war, legten sie die begonnene Übersetzung einfach ad acta. So geschehen mit dem „Vorfrühling“ von Stefan Żeromski. Der Übersetzer signalisierte dem Verlag, dass in dem Roman der polnisch-sowjetische Krieg von 1920 geschildert wird, und da sagte der Verlag „Schluss!“. Jahre später wurde das Buch doch noch zu Ende übersetzt und herausgegeben. Eine Übersetzung von Bruno Schulz lag schon fertig vor, als das Ministerium (das heißt: die Zensur) zu der Überzeugung kam, dass es darin zu viel Pessimismus, Modernismus und Formalismus gebe. So wurde das fertige Buch auf Eis gelegt und – warm gehalten, so hieß es im Verlag. Bei der nächsten Gelegenheit ist es dann doch erschienen, sogar in einer schönen Ausgabe.
Warum brachte man einmal beanstandete Bücher nach einiger Zeit doch noch heraus?
Da gab es die unterschiedlichsten Gründe. Es wechselten Personen und die politische Wetterlage, ideologische Konjunkturen verblassten und künstlerische Werte erhielten mehr Beachtung. Bei Żeromski z.B. war es der 50. Jahrestag der Erscheinung des Romans (1925). Manchmal halfen Gutachten und Nachworte dabei, die ideologischen Bedenken zu entkräften. „Ja, hier steht zwar das und das, aber das muss man nicht unbedingt bedenklich interpretieren, man kann es auch so und so lesen“. Auf diese Weise ist es mir zum Beispiel gelungen einen Gedichtband und Erzählungen von Różewicz durchzudrücken.
Manchmal suchte man das Ziel auf Umwegen zu erreichen. Stanisław Jerzy Lec’ „Unfrisierte Gedanken“ allein durfte nicht veröffentlicht werden, aber eine Sammlung polnischer Aphorismen unter prominenter Beteiligung von Lec konnte mit Erfolg auf dem Markt durchgezogen werden.
Manches war aber unter keinen Umständen möglich. Ich versuchte zum Beispiel eine Auswahl der Prosa von Henryk Worcell zu veröffentlichen, dem eine glaubwürdige Schilderung der zwiespältigen polnisch-deutschen Begegnungen in Niederschlesien gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen war. Aber dass es in Polen Hass auf die Deutschen gab, war ein Thema, das in der DDR nicht angesprochen werden durfte. Auch Tadeusz Borowski ging nicht. Meine Bemühungen, Ende der 1970er Jahre seine Auschwitz Erzählungen herauszugeben, führten zu nichts. Und warum? Weil eine Gutachterin des Verbandes der Verfolgten des Naziregimes Borowski vorgeworfen hatte, die Auschwitz-Häftlinge zu verleumden. Dabei konnte sie an keiner einzigen Stelle konkret nachweisen, dass er nicht die Wahrheit geschrieben hätte. Es half nichts. Auf die Heroisierung der Häftlinge und die Dämonisierung der Täter zu verzichten, wie es Borowski getan hat, das war in der DDR unerwünscht und Schluss.
Wie von Ihnen eben angedeutet, beschränkten Sie sich nicht auf Rezensionen, sondern bereiteten selber Anthologien vor. Außerdem schrieben Sie viele Vor- und Nachworte.
Die Zusammenarbeit mit den Verlagen war intensiv. Vor- oder Nachworte schrieb ich unter anderem zu Werken von Różewicz, Bratny, Breza, Miłosz, Kaden-Bandrowski, Żeromski. Zusammengestellt und herausgegeben wurden von mir unter anderem die Anthologien des polnischen Dramas, der Krakauer Avantgarde, der deutschen Polenlieder. Gemeinsam mit Henryk Bereska bereiteten wir eine große Anthologie der „Polnischen Lyrik aus fünf Jahrzehnten“ vor. Für den im Schulbuchverlag Volk und Wissen 1990 erschienen Band, der 24 Porträts polnischer Autoren der Gegenwart enthielt, übernahm ich die fachwissenschaftliche Betreuung und schrieb die Porträts von Borowski und Miłosz. Am Anfang hieß es übrigens, Miłosz komme nicht in Frage, auch und gerade als Nobelpreisträger galt der Emigrant als Tabu. Im letzten Augenblick, als in der DDR der Roman „Tal der Issa“ erschienen war, wurde doch noch grünes Licht für ein Miłosz Porträt gegeben.
Wie populär war die polnische Literatur in der DDR?
Ihre Aufnahme war seit den 50er Jahren offiziell und selektiv gefördert. Die offizielle Förderung schloss ein wachsendes spontanes Interesse in den sechziger Jahren und danach nicht aus. Sie war durchaus erfolgreich. Die Anthologie Moderne polnische Prosa 1964 zum Beispiel bekam begeisterte Rezensionen und hatte zwei Auflagen. Selbst unsere “schwierige“ Anthologie der Poesie erreichte zwei Auflagen. Die höchsten Zahlen erreichten freilich die Bücher von Stanisław Lem und der „Pharao“ von Bolesław Prus. Sciens fiction und ein historischer Roman. Weil fesselnd und unverfänglich?
Trug die polnische Literatur zum Abbau der Vorurteile bei?
Sofern sie Interesse weckte, bewirkte sie ein Nachdenken und mehrte das Verständnis für die Nachbarn. Nehmen Sie „Die Sonnenbruchs“ von Leon Kruczkowski. Das Stück mit dem Originaltitel „Die Deutschen“ lief auf zahlreichen ostdeutschen Bühnen, war zeitweise sogar Schullektüre. Was war so besonders daran? In der DDR herrschte die schwarz-weiß Zeichnung der Verhältnisse im Dritten Reich; auf der einen Seite die SS-Bestien, auf der anderen der kommunistische Widerstand. Dazwischen war nichts. Kruczkowski dagegen lenkte seine Aufmerksamkeit auf die unentschiednen Haltungen des Mittelfeldes. Ohne Hass und ohne Schonung fragte er nach der Schuld der anständigen Deutschen. Das gab zu denken.
Andererseits sollte man die direkte Wirkung der Literatur nicht überschätzen. Das praktische Dasein ist es, das alte Vorurteile nährt und neue erzeugt. Am 31. Oktober 1980 war ich zu einer Veranstaltung des Kulturbundes in Frankfurt an der Oder. An diesem Tag wurde die Grenze nach Polen dicht gemacht. Als mich der Taxifahrer vom Bahnhof zu dem Veranstaltungsort fuhr, sagte er, „Na endlich ist die Grenze zu. Endlich kann meine Frau noch um 16 Uhr in die Kaufhalle gehen und auch etwas nach Hause bringen“. Das war ein Standpunkt der „kleinen Leute“ zum offenen Grenzverkehr zwischen DDR und VRP.
Jetzt, angesichts der Solidarność Bewegung zeigte sich, was hinter den Freundschaftsparolen der SED-Funktionäre steckte: viele unbewältigte Ressentiments. Als es nach Jahren der Informationsblockade wegen Solidarność in den späten 1980er Jahren gelungen war, einen Band neuester polnischer Prosa herauszubringen, lautete der Titel schlicht „Nachbarn. Texte aus Polen“. Das von der Propaganda verwendete und verhunzte Wort „Freundschaft“ wurde bewusst vermieden. Die Herausgeber wussten, dass es notwendig war, den Fremden zuerst ohne Scheuklappen als Nachbarn wahrzunehmen, um dann neugierig auf ihn zu werden.
Wie intensiv waren Ihre persönlichen Kontakte zu Polen?
Seit meiner Aspirantur war ich fast jedes Jahr zu Studienaufenthalten, mal länger mal kürzer, in Warschau und Krakau, besuchte auch immer wieder Oberschlesien. Neben den fachlichen ergaben sich auch inoffizielle persönliche Kontakte, die sich später als politische erweisen sollten.
Einen wichtigen Kontakt knüpfte ich kurz nach dem Studium über die Evangelische Akademie in Berlin. Anfang 1966 bat mich jemand von der Akademie, bei der Vorbereitung und Übersetzung einer Veranstaltung mit polnischen Gästen zu helfen, es waren Tadeusz Mazowiecki, Stanisław Stomma und Rudolf Buchała. Der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen lag erst einige Monate zurück. Die Gäste berichteten, wie er in Polen aufgenommen wurde, schilderten auch die Obstruktion seitens des Staates. Ich erinnere mich an eine atmosphärisch bezeichnende Episode von damals. Der Saal war voll, das Interesse riesengroß. Ein Pastor meldete sich zu Wort, der aus den deutschen Ostgebieten stammte. Er fragte, wie Versöhnung gelingen könne, wenn sein persönliches Schicksal und das vieler anderer Vertriebenen hier, an einem kirchlichen Ort, als störend betrachtet werde. Die Moderatorin versuchte in der Tat ihn abzuwürgen. Aber noch während der Veranstaltung ging Mazowiecki auf den Mann zu, sie zogen sich in einen Nebenraum zurück und redeten lange miteinander. Als sie zurückkamen, war der Pastor wie verwandelt. Für mich ein Beleg dafür, dass der Dialog schmerzlich sein kann, aber nicht unaufrichtig sein darf.
Dieses spannende Erlebnis war zugleich der Beginn meiner Bekanntschaft mit Mazowiecki, dem Chefredakteur der „Więź”, den ich später noch mehrmals in Warschau besuchte. Auf diese Weise kamen auch die Kontakte zum Warschauer Klub der Katholischen Intelligenz zustande. Später lernte ich noch das Krakauer Milieu um den dortigen KIK, Tygodnik Powszechny und ZNAK kennen, vor allem Hanna Malewska und Halina Bortnowska, letztere, mit der ich befreundet bin, besuchte mich später oft in Berlin.
Waren diese Kontakte inspirierend für Sie?
In vielerlei Hinsicht. Meine fachliche Anlaufstelle in Polen war das Instytut Badań Literackich (IBL). Diese Einrichtung der Polnischen Akademie der Wissenschaften war wegen des theoretisch innovativen Profils und der emanzipierten Haltung ihrer Mitarbeiter gegenüber der offiziellen Ideologie bekannt. Man nahm mich dort ohne Vorbehalte auf, ich gewann neuartige methodische Einsichten und machte menschlich bereichernde Erfahrungen. Dankbar denke ich an die Begegnungen u. a. mit den Kolleginnen und Kollegen Maria Janion, Janusz Sławiński, Michał Głowiński und dem Gutachter meiner Habilschrift Stefan Treugutt.
Über das Fachliche hinaus, war es immer wieder faszinierend, die Arbeit des KIK zu erleben. Dort beschäftigte man sich nämlich nicht nur mit theologischen Fragen, sondern diskutierte offen soziale, kulturelle und auch politische Konzepte. Das verlangte Kühnheit und Umsicht zu einer Zeit, als von Solidarność noch keine Rede war. Ein solches Beispiel weitete den Horizont und inspirierte zum Nachahmen, auch wenn die Realität in der DDR eine andere war. Später lernte ich mehrere wichtige Vertreter der polnischen Opposition kennen, unter anderen Adam Michnik und Marcin Krόl.
Aber auch abseits der harten Opposition war der kulturelle Habitus in Polen anders als in der DDR. Ein Beispiel: Nachdem ich 1979 mein Buch Lyrik in Polen veröffentlicht hatte, erhielt ich einen Preis der Zeitschrift „Polen/Polska“, die in Warschau in mehreren Sprachen herausgegeben wurde. Diese Zeitschrift hatte aber zwei deutsche Redaktionen, eine für die DDR und eine andere für den Westen und die Bundesrepublik. Ich erhielt den Preis von der Westredaktion. Als ich ihn im Herbst 1980 entgegennahm, war ich hingerissen von dem Freiheitsenthusiasmus im Lande und in der Redaktion selbst. Es war der Anbruch der Solidarność-Zeit. Nach der Rückkehr drohte mir zu Haus ein Disziplinarverfahren. Die desorientierten Vorgesetzten in der Akademie der Wissenschaften hatte die Angst erfasst, ihr Mitarbeiter hätte womöglich einen Preis der Solidarność entgegen genommen. Das Odium ideologischer Verfehlung würde die ganze Akademie treffen.
Sie wurden erst 1988 Professor, kurz vor der Wende. Davor ging es wegen Ihrer nonkonformen Haltung nicht?
Es gab schon 1984 Aussichten an die Universität zu wechseln. Damals wurde die Professur für Polonistik vakant. Da ich aber kein Mitglied der SED war, wurde meine Kandidatur abgelehnt. Spätestens zum damaligen Zeitpunkt fand ich mich damit ab, dass ich in der DDR niemals Karriere machen würde, weil ich halt dem „richtigen Verein“ nicht angehören wollte. Nachdem man mich als Nachfolger des verstorbenen Professors nicht akzeptiert hatte, wurde ein Gastdozent aus Polen für die vakante Stelle geholt. Nach vier Jahren endete dessen Vertrag, die Stelle blieb unbesetzt, und Warschau drängte auf Ost-Berlin, diesen im Grunde einzigen Polonistiklehrstuhl in der DDR doch dauerhaft zu besetzen. Angeblich meinte die DDR-Seite daraufhin, sie hätte keinen geeigneten Kandidaten. Unterdessen, so kam es gerüchteweise an mich, suggerierten polnische Wissenschaftler dem Warschauer Ministerium meine Kandidatur, das sickerte nach Berlin durch. Früher hätte das wahrscheinlich nichts bewirkt, aber 1988 war die SED schon müde. Der zuständige Minister soll gesagt haben, „Ach was, egal wer das ist, ich will endlich Ruhe haben und nicht ständig von den Polen belästigt werden“. So wurde ich im Herbst 1988 ordentlicher Professor an der Humboldt Universität.
Wie war die Arbeit an der Universität in dieser letzten Phase der DDR?
Man merkte, dem System die Müdigkeit und innere Zersetzung an, so waren auch die Verhältnisse an der Universität erträglicher geworden. Allerdings gab es immer noch manche Kuriositäten, etwa die „Rote Woche“, eine für die Studenten zum Semesterbeginn veranschlagte Woche ideologischer Agitation. Auch ich musste sie durchmachen, nur war diese ganz und gar nicht rot. Ich lud Studenten, die ein Jahr an den Hochschulen in Polen verbracht hatten, dazu ein, über ihre Erfahrungen und Beobachtungen aus dem „Bruderland“ zu erzählen. Was die berichteten, war Sprengstoff. Und darüber diskutierten wir eine Woche lang.
Konrad Weiß sagte mir, dass Sie für die Systemgegner in Ostberlin sehr wichtig gewesen seien, weil Sie einer der wenigen von ihnen waren, der die polnische Sprache kannte und gut orientiert war, was in Polen los war. Dieses Wissen hätten Sie dann unter die Oppositionellen in Berlin gebracht. Sahen Sie sich selber in dieser Rolle des Vermittlers, des Transmissionsriemens?
Das ergab sich in der Tat wegen meiner Kenntnisse der Sprache und der Situation in Polen sowie wegen des Beziehungsnetzes, das ich im Lande hatte. Ich half bei Kontakten in beide Richtungen, brachte Materialien aus Polen. Schon 1968 übersetzte und verbreitete ich das Protestschreiben Jerzy Andrzejewskis an seine tschechischen und slowakischen Schriftstellerkollegen gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes. Während der Solidarność-Zeit kam es zu einem regelrechten Schmuggel von Gedrucktem, auf das die DDR-Grenzer Jagd machten.
Vermittlung bedeutete auch immer ein Stück Aufklärung. Als 1980/81 die DDR von echten Informationen darüber, was in Polen vor sich ging, abgeschnitten war, fragte mich eine Kollegin, ob ich in einen Betrieb gehen würde, wo ihr Sohn als Ingenieur arbeitete. Er sei Parteimitglied und wolle zusammen mit der Gewerkschaft im Betrieb eine Zusammenkunft organisieren, um etwas Genaueres über die Entwicklung in Polen zu erfahren. Und ich sollte einen Vortrag darüber halten. Ich ging dorthin und sprach über die juristische Zulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc und über das neue Gewerkschaftsgesetz in Polen. Sie hätten das Gesicht des dortigen Parteisekretärs sehen sollen!
Ebenfalls 1988, kurz nachdem ich an die Universität gewechselt bin, lud mich die dortige SED Organisation ein, bei ihnen über die Lage und die Entwicklung in Polen zu referieren. Ihnen war bewusst, dass in Polen etwas bis dahin Unvorstellbares vor sich ging, und sie hatten davon keine Ahnung. Den Berichten im „Neuen Deutschland“ trauten sie längst nicht mehr.
Inwiefern waren Sie in der heißen Phase 1989 in die politischen Ereignisse involviert?
Selbständige Reflektion gesellschaftlicher Fragen erfolgte in verschiednen, meist ökumenischen Zirkeln, dort begegnete ich u. a. Ludwig Mehlhorn und Konrad Weiß, der mein Nachbar war. Meine Frau war aktives Mitglied im Friedenskreis Pankow. Das war für uns eine ziemlich intensive Einübung ins oppositionelle politische Leben, wofür uns die Stasi mit Reiseverbot nach dem Westen bestrafte. Später engagierten wir uns im Neuen Forum, wo ich gemeinsam mit dem Friedenskreis einen Erfahrungsaustausch mit polnischen Gästen organisierte. Es war die Zeit der Mazowiecki-Regierung, in Polen hatte man bereits Wahl- und Regierungserfahrung. Angereist waren die Publizistin Halina Bortnowska und der Journalist Artur Hajnicz, sie drängten darauf, dass wir uns unverzüglich auf die Übernahme der Macht vorbereiten sollten. Es war Ende 1989, die Wahl in der DDR sollte im März stattfinden, wir waren uns unschlüssig über die Konsequenzen. Ihre Ratschläge klangen in unseren Ohren etwas futuristisch. Dennoch war es für das Neue Forum eine sehr inspirierende Begegnung. Wir alle merkten, dass die Polen mit ihrer Erfahrung uns etwas Wichtiges voraus hatten.
Hatten Sie in der DDR Probleme mit der Stasi?
Ein Vertreter der Stasi suchte mich zum ersten Mal in den 1970er Jahren auf, allerdings nicht im Zusammenhang mit Polen.
Später folgten Befragungen durch die Stasi im polnischen Kontext. Wer dienstlich ins Ausland reiste, auch ins östliche, musste üblicherweise Berichte darüber schreiben. In den 80er Jahren kam es dann besonders heftig. Bevor ich nach Polen reiste bzw. nach meiner Rückkehr, wurde ich zu Gesprächen in die Abteilung Kontrolle und Auswertung der Akademie der Wissenschaften vorgeladen. Im Klartext: das war eine akademieeigene Stasistelle. Der Mann dort stellte sich ahnungslos, schlich wie die Katze um den heißen Brei, wusste aber genau, dass ich mit Karl Dedecius korrespondierte. Eines Tages rief er mich wieder zu sich und überließ mich kurzerhand einem „Kollegen aus der Stadt“, der sich als Major vorstellte. Nach kurzer Abschweifung steuerte er auf den Kern zu; ich hätte doch einen Bekannten an der Freien Universität in West-Berlin. Das stimmte, ich hatte den Slawisten übrigens in Warschau kennengelernt. Der Stasioffizier wollte nun etwas über ihn wissen und schlug mir dann vor, über diesen Kollegen weitere Kontakte an der FU zu knüpfen. Er würde dabei gern behilflich sein, das heißt, die Ausreise dorthin ermöglichen, was nur so zu verstehen war, dass sie mich zu ihrem Agenten an der FU machen wollten. Den Werbungsversuch, der mir einen gehörigen Schrecken einjagte, habe ich abgelehnt und die Ermahnung, über das Gespräch Stillschweigen zu bewahren, sofort gebrochen. Damit hatte sich die Sache erledigt, es war aber eine sehr heikle Erfahrung.
Später entdeckte ich in meiner Stasiakte, dass ich seit 1965 in ihren Karteikarten erfasst war. Ich fand dort auch die Kopie meines Tagebuches. Können Sie sich das vorstellen? Sie haben es auf einem Flug nach Warschau aus dem Koffer geholt, und ich wunderte mich, weshalb man auf dem Flughafen eine ganze Stunde vor dem Abflug sein Gepäck abgeben sollte. Später wurde mir klar warum? Die Kopie des Tagebuches enthielt den Kommentar eines Stasimannes, der sich über meine unleserliche Handschrift beschwerte.
Nach der ersten freien Wahl in der DDR waren Sie als Botschafter in Polen vorgesehen, aber letzten Endes kam es nicht zum Amtsantritt.
Als Markus Meckel (SPD) Außenminister in der ersten demokratisch gewählten Regierung wurde, lud er mich als Mitarbeiter ins Außenministerium ein, und zwar mit der Vorgabe, sich auf den Botschafterposten vorzubereiten. Bei seinem Antrittsbesuch in Warschau, bei Außenminister Skubiszewski, gehörte ich zur Delegation. Im polnischen Parlament begegnete mir überraschend der Senator und ehemaliger Kollege aus dem IBL Jan Józef Lipski. Wir fielen uns in die Arme. Nach den Wahlen im Frühjahr 1990 glaubten wir alle, die DDR würde noch mindestens ein bis zwei Jahre bestehen. Da erschien es mir lohnend, dieses Amt zu übernehmen. Kurz zuvor war ich in Warschau, besuchte u. a. den KIK und „Więź“, dort kamen Leute auf mich zu, die wussten, dass ich aus der DDR kam, und fragten aufgeregt, was nun aus den beiden deutschen Staaten würde? Sie hatten Angst vor der Wiedervereinigung Deutschlands. Da dachte ich mir, dass ich Polen, seine Kultur, Mentalität und hinreichend viele Leute kenne, und deshalb dazu beitragen könnte, die Gemüter zu beruhigen. Die Nominierungsprozedur war schon fortgeschritten, ich hatte bereits das Agrément vom polnischen Staatspräsidenten, damals war es Wojciech Jaruzelski, und der Flug zum 1. September 1990 war gebucht. Aber dann kam alles anders. Die Regierungskoalition in der DDR zerbrach und der Termin der Vereinigung Deutschland wurde auf den 3. Oktober festgelegt. Da lohnte es nicht mehr den Posten in Warschau anzutreten.
Sie sagten vorher, dass die polnische Literatur zumindest bei einem Teil der DDR-Bevölkerung für Interesse und Verständnis für Polen gesorgt habe. Trägt auch heute noch die Literatur zur Verständigung zwischen den Deutschen und Polen bei? Leistet der Kulturaustausch, insbesondere die Literatur, einen Beitrag zur Annäherung?
Es gibt eine Reihe jüngeren polnischer Autoren, die in Deutschland einen Leserkreis gefunden haben. Das zeigt, dass ein Interesse vorhanden ist, und dass sich polnische Literatur auch abgesehen von den großen Dichternamen: Miłosz, Szymborska, Różewicz, Herbert in Deutschland durchsetzen kann. Dennoch bin ich skeptisch, was Ihre Frage angeht. Die Bedeutung der schönen Literatur ist nicht mehr die, wie in den vergangenen Jahrzehnten. Insbesondere unter den kommunistischen Regimes Osteuropas hatte sie einen Sonderstatus, was natürlich mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und dem Monopol des Staates in den Medien zu tun hatte. Heute spielt der unzensierte Austausch von Informationen vor allem durch die elektronischen Medien eine zentrale Rolle bei der Meinungsbildung der Gesellschaft. Da erscheint die subversive Kraft der Literatur verzichtbar.
Haben Sie manchmal Heimweh nach Oberschlesien?
Heimweh nein. Aber ab und zu nostalgisch-genealogische Anfälle. Ein solcher bewegte mich, einmal mit der gesamten Familie, mit Frau, Tochter, Sohn, Schwiegersohn und Enkelkindern dorthin, nach Nakel zu reisen, wo das Grab meines Vaters ist. Wir besuchten auch meine Schulstadt Oppeln und das Schloss der Familie von Strachwitz in der Nachbarschaft, in Groß Stein. Den Kindern gefiel es dort. Es war Juni, die fischen grünen Wiesen, Wälder, ein Teich… Ja, nostalgisch werde ich ab und an, mit Heimweh hat das aber nichts zu tun. Vielleicht auch deshalb, weil mir dieser Landstrich entfremdet wurde. Es war doch nicht so wie bei den meisten Vertriebenenschicksalen meiner Generation, dass ich dort als kleines Kind lebte und plötzlich, sagen wir 1945/46, ausgesiedelt worden wäre. Nein. Ich erlebte ein Jahrzehnt lang vor Ort, wie sich dieses Land um mich total veränderte. Wie es aufhörte, die Heimat meiner Kindheit zu sein. Es war ein ernüchternder Vorgang.
Berlin, 10.01.2012 / 19. 10. 2019
Unter dem Titel Nachbarn gedruckt in: Polen – mein Weg zur Freiheit. Wie Polen die DDR-Bürgerrechtler inspirierte – 13 Gespräche. Instytut Pamięci Narodowej, Warszawa 2015