Wissenschaftliche Texte
Bertolt Brecht, der Hitler-Stalin-Pakt und Polen
Zwei Jahre ist es her, dass sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal jährte. Das Jahr 2009 hat uns eine wahre Erinnerungsorgie beschert, doch die wesentlichen Anlässe, woran sie sich entzündete, liefern auch über das Gedenkjahr hinaus immer neuen Debattenstoff. Dies gilt für den eigentlichen Kriegsbeginn am 1. September 1939, und auch für das Ereignis, das gleichsam dessen Ouvertüre darstellte: die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August 1939.
Fünfzig Jahre später demontierte die friedliche Revolution in den Ländern des „sozialistischen Lagers“ das Joch der Parteidiktatur im Innern und streifte nach außen die sowjetische Vorherrschaft ab. Beide Vorgänge stehen in einem Zusammenhang, der nicht immer gesehen wird, der aber bedacht zu werden verdient.
Erst 1989 erlebten die Völker Ostmitteleuropas jene Befreiung, welche den Westeuropäern schon das Ende des zweiten Weltkrieges beschert hatte. Aus diesem Umstand ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen der ost- und westeuropäischen Erinnerungskultur, sowohl bezüglich des Endes und als auch des Beginns des Krieges.[1] In einem der Erinnerung an das Kriegsende gewidmeten Genshagener Gespräch betonte der polnische Botschafter 2005, für sein Land stelle „paradoxerweise erst das Jahr 1989 ein endgültiges Ende des Krieges“ dar. Sein lettischer Gesprächspartner spitzte diesen Gedanken weiter zu: Der 8. Mai 1945 bildete für eine Reihe ostmitteleuropäischer Länder „den Ausgangspunkt einer zweiten Okkupation“. Und er knüpfte daran die „provokante Frage“, wann der Zweite Weltkrieg eigentlich begonnen habe. War es der 1. September 1939, oder habe ihn nicht schon der 23. August 1939 ins Rollen gebracht? Der deutsche Moderator beeilte sich daraufhin zu erklären, dass dieser Aussage „ein Urteil aus dem ‚Westen’ gegenübergestellt werden müsse“.[2]
„Die durch das Epochenjahr 1989 möglich gewordene Erinnerungspluralität“, so fasst es Stefan Troebst zusammen, machte das Ende des Krieges und dessen Beginn zum Gegenstand offener Kontroversen zwischen den nationalen bzw. regionalen Erinnerungskulturen Westeuropas, Ostmitteleuropas und Osteuropas.[3]
Was der Nichtangriffspakt, den Sebastian Haffner als „Teufelspakt“ bezeichnet hat, für die beiden Seiten bedeutete und wie weit reichend seine Folgen für die europäische Staatenarchitektur und die politische Kultur waren, nimmt im historischen Gedächtnis im Osten und Westen, speziell in Deutschland und Polen, einen sehr verschiedenen Platz ein.[4]
Die Umsetzung der im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt getroffene Vereinbarung, die die Interessensphären des Deutschen Reiches und der Sowjetunion abgrenzte, erfolgte am 17. 9. 1939 mit dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen. Von sowjetischer Seite wurde die Existenz des Protokolls bis in die 1990er Jahre geleugnet. In der späteren DDR durfte man nicht darum wissen, in der Bundesrepublik aber wollten viele nicht wissen. So bleibt der 17. September 1939 für die meisten Deutschen bis heute ein stummes, nicht dechiffrierbares Datum, während derselbe Tag für die Polen einen katastrophalen Einschnitt bedeutet, der die doppelte Okkupation des Landes besiegelte. Für unzählige Menschen schloss sich daran eine unheilvolle Kette aus Verhaftung, Deportation und Tod. Der Massenmord von Katyn wurde dafür das makabre Symbol.
September 1939 in Schweden
Einer, der sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Geschehen befasste und den das Wissen darum betroffen machte, war Bertolt Brecht. Im Herbst 1939 hielt der damals längst international bekannte Theaterautor und Dichter sich im schwedischen Lidingö auf, einer Station seines skandinavischen Exils zwischen Dänemark und Finnland. Von hier aus beobachtete und kommentierte der vor den Nazis geflohene Schriftsteller die Ereignisse. Hitlers Überfall auf Polen war nach den vorangegangenen Entwicklungen des Jahres 1939 vorhersehbar gewesen, sein Pakt mit Stalin dagegen war eine böse Überraschung. Für den Marxisten Brecht tat sich ein Konflikt auf. In seinem ideologischen Projekt, für das der Glaube an die Vorzüge einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine ebenso wichtige Rolle spielte wie der Zorn auf das Bürgertum und die Verachtung der Demokratie, nahm seit den dreißiger Jahren die Sowjetunion eine zentrale Stelle ein. Das einzige Land, das sich durch die Errichtung einer neuen Gesellschaft definierte und nicht durch Nationalismus, erschien Brecht als das „Vaterland der Vernunft“. Mit dem friedlichen Aufbau der großen Produktion befasst, habe die Sowjetunion sich von der expansiven Politik des russischen Imperiums abgewandt. Sie verstand sich als Heimat des internationalen Proletariats und galt allgemein als Antithese zum Faschismus. All diese ideologischen Selbstverständlichkeiten hatte die machtpolitische Kehrtwende Stalins nun auf den Kopf gestellt.
Dass die „große verwirrung“, die der Hitler-Stalin-Pakt bei allen Proletariern angerichtet habe, auch Brecht selbst nicht unberührt ließ, ist an seinen Aufzeichnungen im Arbeitsjournal 1938–1955 abzulesen.[5] Dieses Journal ist weder eine zeitgeschichtliche Chronik noch ein intimes Tagebuch; im Mittelpunkt steht vielmehr die literarische Produktion. In seinen Notizen präpariert der Verfasser auch das aktuelle politische Material – mit sichtlicher Lust an Figuren paradoxer Umkehrung. So notiert er am 4. 9. 1939, in Polen werde gekämpft ohne Kriegserklärung; im Westen habe man zwar den Krieg erklärt, aber es gebe keinen Kampf.[6] Als räsonierender Stratege und Meister „literarischen Probehandelns“ (Michael Rohrwasser) liebte Brecht griffige Formulierungen, die den Anschein erwecken mochten, als habe er selbst die Dinge im Griff. Das Arbeitsjournal ist durchweg um eine nüchterne Diktion bemüht, vermeidet bei politischen Gegenständen den Ausdruck von Gefühlen und moralischen Urteilen. An Stelle von Erschütterung steht hier Analyse, was allerdings nicht heißt, dass es Erschütterung nicht gegeben hätte.
Das ideologische Konzept des Marxisten und das existentielle Interesse des Flüchtlings gerieten angesichts der neuen machtpolitischen Fakten in einen Widerstreit. Einerseits nennt Brecht die Dinge beim Namen: Die Behauptungen der Kommunisten, der Pakt sei eine friedenserhaltende Maßnahme, kontert er mit der Feststellung, „allerdings brach kurz darauf … der krieg aus, und hitler begründete die möglichkeit seiner führung… mit diesem pakt“.[7] Die Sowjetunion habe durch den Pakt mit Hitler zwar die eigene Haut möglicherweise gerettet, aber „das weltproletariat ohne losungen, hoffnungen und beistand“ gelassen. So trage sie diesem gegenüber nun „das fürchterliche stigma einer hilfeleistung an den faschismus.“[8] Die Kritik an Stalin ist deutlich und zugleich sehr abstrakt, denn gerade die Proletarier jener Länder, deren Geschicke bei dieser Gelegenheit verhökert wurden, kommen gar nicht in den Blick.
Zugleich versucht Brecht, Stalins Vorgehen gegen Polen und Finnland mit allerlei strategischen Spekulationen zu rechtfertigen. Den deutschen Angriff auf Polen erklärt er mit dem marxistischen ökonomischen Basisschema: „man hat einen krieg zwischen imperialistischen staaten. /…/ man hat einen aggressiven kapitalismus gegen einen defensiven“.[9] Damit übernimmt er Stalins Deutung, in der Angreifer und Angegriffene praktisch gleichgesetzt werden. Mit dieser Formel konnte die Sowjetunion sich scheinbar aus dem Konflikt heraushalten und sich beim Opfer der Aggression territorial bedienen.
Exkurs: Brecht und Polen
In Brechts Arbeitsjournal folgt auf die bemühte ideologische Selbstvergewisserung zu Kriegsbeginn eine schnörkellose Beschreibung der Situation nach dem 17. September. Es sei „sehr schwer, sich an die nackte realität zu gewöhnen“. Jetzt, da „alle ideologischen verhüllungen zerfetzt“ seien, zeige sich die Lage wie folgt: “da ist die vierte teilung polens“! Damit werde die Parole, „die USSR braucht keinen fußbreit fremden bodens“, Lügen gestraft.[10]
Dass Brecht am 18. September 1939 die Formel von der „vierten teilung polens“ benutzte, legt die Annahme nahe, ihm seien die historischen Umstände der vorausgegangenen drei Teilungen zwischen Preußen und Russland (und Österreich) bewusst gewesen. Eine Notiz tags darauf stellt das allerdings wieder in Frage: “im schatten großer kämpfe werden zwei provinzen besetzt, die zum russischen reich gehörten.“[11] Hier schlägt die abstrakte Rhetorik der Weltrevolution durch; die „großen kämpfe“ sollen den Bruch des Völkerrechts und die Besetzung der Hälfte fremden Staatsterritoriums als eine Bagatelle erscheinen lassen. Auch fragt der Dialektiker nicht, seit wann und wodurch die fraglichen Provinzen zum Russischen Reich gekommen waren und seit wann sie definitiv nicht mehr dazu gehörten – nämlich seit dem Friedensvertrag von Riga 1921. Umgekehrt wäre es Brecht wohl kaum in den Sinn gekommen, von den polnischen Gebieten Posen und Pomerellen, die Hitler als Wartheland und Westpreußen dem Reich angeschlossen hatte, zu sagen, sie hätten früher zu Preußen gehört. Eine imperiale Kontinuität zwischen dem Zarenreich und Stalins Sowjetunion dagegen scheint – nicht untypisch für den deutschen Blickwinkel – auch Brecht unhinterfragt hinzunehmen.
In dieser Hinsicht erwies er sich als Gefangener des Zeitgeists der Weimarer Republik, der Osteuropa vor allem aus der Perspektive von Rapallo (1922) betrachtete. Das Verhältnis des Deutschen Reiches zu Sowjetrussland war aus dieser Sicht das alles entscheidende; die Beziehungen zu den Ländern dazwischen, die durch den Versailler Vertrag (1919/20) auf die europäische Bühne gelangt waren – so auch der Nachbar Polen – verdienten keine besondere Aufmerksamkeit. Deutschlands öffentliche Meinung schien überrascht, ja beleidigt darüber gewesen zu sein, dass ein Volk, das 120 Jahre als politische Nation nicht existent gewesen war, plötzlich wie Phönix aus der Asche Anspruch auf einen eigenen Staat erhob – und das auch noch auf Kosten deutscher Reichsgebiete! Dem „Saisonstaat“ Polen wurde die Zukunftsfähigkeit abgesprochen. Die Reichswehr trachtete danach, ihn durch Russlands Hilfe zu beseitigen, und die Spartakisten/ Kommunisten verübelten ihm die mangelnde Begeisterung für die bolschewistische Revolution, vor allem aber, dass er den Siegeszug der Roten Armee nach Westeuropa, der das weltrevolutionäre Netzwerk zwischen Moskau und Berlin knüpfen sollte, 1920 vor Warschau stoppte. Der Historiker Gerhard Wagner skizziert das Stimmungsbild der Weimarer Republik so:
Prosowjetische Stimmen der äußersten Linken trafen sich mit scharf antipolnischen Stimmen der politischen Mitte und natürlich vor allem der Rechten, so dass ein antipolnischer Chor entstand, von dessen Hassgesang sich eigentlich nur die SPD einigermaßen glaubwürdig distanzierte.[12]
Und Brechts politische Sympathien gehörten nicht eben der SPD.
Und ein Zweites kam hinzu: die verschiedenen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. In Deutschland, das als Krieg führende Macht von der Niederlage, der Revolution und dem Endes des Kaiserreichs erschüttert worden war, dominierten Antimilitarismus und Antiimperialismus die Meinung der kulturellen Eliten. Aus Wehrdienstpflichtigen und Freiwilligen des „großen Krieges“ sind Kriegsgegner geworden. Dafür stehen in der Literatur die Namen expressionistischer Dichter und weiterer Autoren, wie Arnold Zweig, Remarque, Tucholsky, Toller, Renn, oder Kästner. Die wilhelminischen Parolen von „Vaterlandsverteidigung“ und „Heldentod“ einerseits und das aussichtslose Gemetzel des Stellungskrieges andererseits haben den Heroismus in Verruf gebracht. Der junge Brecht begegnete derlei Parolen mit dem zornigen und zynischen Sarkasmus der Legende vom toten Soldaten (1918).
Anders in Polen. Zu Kriegsbeginn gab es keinerlei patriotische Begeisterung. Woher sollte sie auch gekommen sein? Junge Männer wurden in die Armeen der Teilerstaaten eingezogen und dienten als Kanonenfutter für fremde strategische Ziele. Im Laufe des Krieges, in dem die Teilermächte zu ersten Mal aneinander gerieten, erwachte die Hoffnung, dass sich hieraus eine Chance auf Unabhängigkeit ergeben könnte. Als 1915 die von Piłsudski an der Seite Österreich-Ungarns gegründeten Polnischen Legionen ins militärische Geschehen eingriffen, bekam der Krieg einen für das Schicksal der Nation befreienden Sinn. Die Dichtung, die diesen Kampf thematisierte (Edward Słoński, Józef Mączka u. a.), bewegte die Frage, ob das Blutopfer die erhoffte Freiheit bringen werde, nicht jedoch, ob es sich lohne, dieses Opfer zu bringen. In Anknüpfung an die Tradition der nationalen Aufstände im 19. Jahrhundert gelangte soldatischer Patriotismus aufs Neue in sein Recht.
Es gab natürlich auch Stimmen, die im Einklang mit dem westeuropäischen Pazifismus sich der Idee widersetzten, „Fortschritt durch Blut“ zu erkaufen, sie blieben aber ohne Echo. In Polen fehlte dem Pazifismus die gesellschaftliche Resonanz.
September 1939 in Polen
Brecht rechnete nicht mit einem ernsthaften Widerstand der Polen: “polen schlägt sich überhaupt nicht“, notierte er am 5. September 1939.[13] Die polnischen Regierenden hielt er für Komparsen der Appeasement-Politik, bei der England und Frankreich die Regie führten; den Kriegsbeginn schätzte er als ein taktisches Manöver aller Beteiligten ein, das alsbald in einen diplomatischen Kuhhandel der Westmächte mit Hitler münden würde. Angesichts der realen Kräfteverhältnisse hätte ernsthafter Widerstand seitens der Angegriffenen Tapferkeit, Opferbereitschaft, womöglich Heroismus verlangt – alles Tugenden, die Brechts Vorstellungswelt gänzlich fremd waren. „Kalle, Mensch, Freund, ich habe alle Tugenden satt und weigere mich, ein Held zu werden“, erklärt der Emigrant Ziffel aus den 1940 entstandenen Flüchtlingsgesprächen. ForcierteAbneigung gegen das Heroische, prägt auch die Haltung der Hauptfigur in Mutter Courage und ihr Kinder. Im Stück erklärt sie sich damit, dass gewöhnlichen Leuten Heldentum abverlangt werde, um die Verantwortung der Oberen für schlechte gesellschaftliche Zustände zu vertuschen. Wer mutige Soldaten braucht, meint die Courage, ist ein schlechter Feldhauptmann. Hätte er einen guten Feldzugsplan gemacht, so wären mutige Soldaten nicht nötig, „gewöhnliche täten ausreichen“. [14] Seit den 30er Jahren laborierte Brecht an der utopischen Vorstellung einer Gesellschaft, in der Heldentum entbehrlich sein würde. Gut, das heißt, funktional und gerecht organisierte Verhältnisse zwischen den Menschen kämen mit einem Mittelmaß an Gerechtigkeitssinn, Opferbereitschaft und Tapferkeit aus, wo große Tugenden benötigt werden, da sei etwas faul. Was von dieser Haltung, die auch in anderen Texten derselben Zeit zum Ausdruck kommt (z.B. im Leben des Galilei), Brechts persönlicher Feigheit, was seiner politischen Überzeugung und was der poetischen Imagination entsprang, sei dahingestellt. Mit diesem Maßstab, soviel steht fest, war der moralisch-patriotische Zusammenhalt der akut bedrohten „kleinen Nationen“, waren Mut und Wagemut, nach denen die ausweglose Lage gleichsam rief, nicht zu begreifen. Das sollte sich auch nach dem Krieg beim Gastspiel des Berliner Ensembles in Polen 1952 erweisen.
Der Brechtsche Pragmatismus war denkbar weit entfernt von dem geistigen Klima, das zur selben Zeit in Polen herrschte. Ein durchaus typischer Vertreter dieses Klimas war Brechts Gesinnungsgefährte, der linke polnische Dichter Władysław Broniewski (1897–1962). Der kongeniale Nachdichter der Songs aus der Dreigroschenoper, den das autoritäre Sanacja-Regime in Vorkriegspolen ins Gefängnis gesteckt hatte, sollte 1940 als Häftling des NKVD auch die Moskauer Lubjanka von innen kennen lernen. Im April 1939 schrieb er den poetischen Appell Bajonett aufgesetzt, einen Text, der weit über den konkreten Anlass hinaus als mentales Muster ins kulturelle Gedächtnis Polens eingegangen ist. Darin definiert er Polen als das gemeinsame Haus aller, das gegen äußere Angreifer verteidigt werden müsse. Trotz der weiter vorhandenen sozialen Gebrechen des Landes, die die mittlere Strophe klar benennt, fordert er von jedermann die patriotische Verpflichtung gegenüber dem Vaterland ein. Kritik und Vaterlandsliebe verschmelzen wie selbstverständlich im Zeichen eines romantisch gefassten Heroismus:
Rechnungen des Unrechts gibt es zu Haus,
kein Fremder wird sie begleichen.
Doch unser Blut verweigern wir nicht:
Es quillt aus dem Leib und dem Lied.
Gewiss, oft schmeckte bitter
In diesem Land das Gefängnisbrot,
doch für die Faust über Polen erhoben –
Kugel und Tod.[15]
Waren Brecht und Broniewski in ihrer linken Einstellung durchaus verwandt, so gingen ihre Auffassungen vom Vaterland, Patriotismus und Heldentum in einer bezeichnenden Weise auseinander. Dafür ein symptomatisches Detail. Unter dem Stichwort Patriotismus notierte Brecht 1920: „Sich mit dem Staat abfinden, ist so notwendig als: sich mit dem Scheißen abfinden. Aber den Staat lieben ist nicht so notwendig.“ [16] Broniewski, der mit siebzehn in den Polnischen Legionen gekämpft hatte, verstand sich als Sozialist und Soldat des Kommandanten Piłsudski. Dessen Person gebe ihm die Garantie, für das Wohl des Vaterlandes und der Demokratie eingesetzt zu werden, schrieb er bei seinen Beitritt zur Armee 1918. Und weiter; er wolle „gewissenhaft seinen Dienst tun, um der Republik Polen unantastbare Grenzen zu sichern“.[17]
Broniewski war kein isolierter Einzelfall. Eine ähnliche Haltung lässt sich in der Poesie mit den unterschiedlichsten Exempeln belegen. Der „Bänkelsänger“ Konstanty Ildefons Gałczyński, zum Beispiel, der gewöhnlich ideologische Haltungen wie Kostüme wechselte, schlug in der Verteidigungssituation von 1939, wenn auch ironisch verfremdet, den Ton patriotischer Opferbereitschaft an und ließ, „als es Sommers zu sterben galt / die Soldaten der Westerplatte“ in Reihen zu viert, singend in den Himmel marschieren (178).[18] Mit tragischer Konsequenz befolgten das patriotische Gebot die im Warschauer Aufstand gefallenen Dichter (Krzysztof Kamil Baczyński, Tadeusz Gajcy) sowie die Mitglieder der nationalistischen Losungen huldigenden Gruppe Kunst und Nation (Sztuka i Naród). Deren Schicksal insbesondere erschien dem späteren Nobelpreisträger Czesław Miłosz, aus dem Abstand betrachtet, als „heldenhaft, erschütternd und absurd“ zugleich.[19]
Darüber, wie der schicksalhafte September 1939 im polnischen Erlebnishorizont sich ausnahm, berichtet unter anderem der 1938 als Jude aus Berlin nach Polen ausgewiesene Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiographie. Anfang September, als sich die deutschen Panzer Warschau näherten, brachen Ranicki, sein Bruder und einige Freunde auf den Rundfunkappell eines Offiziers des polnischen Generalstabs hin, der alle waffenfähigen Männer aufforderte, Warschau zu verlassen, nach Osten auf. Nach tagelangem Wettlauf mit den Bombern der Luftwaffe überquerten die jungen Männer den (im Geheimprotokoll als Grenze ausgewiesenen) Fluss Bug. Hier entdeckten sie andere, augenscheinlich sowjetische Flugzeuge am Himmel. „Was hatte Stalin im Sinn? Wollte er Polen verteidigen und beschützen? Wozu sonst hätte er seine Flugzeuge hergeschickt?“ Nach tagelanger Unklarheit stießen Ranicki und seine Begleiter in einem abgelegenen Dorf schließlich auf eine sowjetische Abteilung. Auf die Frage, ob die Russen „für oder gegen die Polen, für oder gegen die Deutschen Partei nähmen“ habe der Rotarmist, so Reich-Ranicki, geantwortet: „Wir sind für das Proletariat und für die Freiheit“. [20]
Die Antwort des Soldaten war symptomatisch. Mit Befreiungsparolen gerüstet drang die Rote Armee am 17. September 1939 in das polnische Staatgebiet ein und besetzte dessen östliche Hälfte bis zu jener Linie, die im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden war. Vor diesem west-östlichen Zangengriff wich die politische und militärische Führung Polens tags darauf ins neutrale Rumänien aus.
Eine bedeutende polnische Prosaautorin des 20. Jahrhunderts, Zofia Nałkowska, notierte in ihrem Tagebuch:
17. IX. 39. Mein Gott, was ist in den paar Tagen geschehen! Anscheinend gibt es das Land gar nicht mehr… Die Städte Lemberg, Krakau schweigen im Radio, keine Züge fahren dorthin, kein Telegramm lässt sich absetzen, von dort kommen weder Briefe noch Zeitungen.
18. IX. 39. Letzte Nachricht von gestern: die Sowjetarmee ist in das Gebiet Polens eingedrungen. (…) Nach dem Verstummen des Rundfunks saßen alle regungslos da, schweigend – einander fremde Menschen von derselben Verzweiflung ergriffen. Die Deutschen, die Bolschewiken und zwischen ihnen eine gemeinsame Grenze. Der aus der Vergangenheit bekannte und überwunden geglaubte Alb der Geschichte kehrt wieder.[21]
Korrekturen des Grenzverlaufs zwischen den Herrschaftsgebieten des Dritten Reiches und der Sowjetunion, die sich am Ende des „Septemberfeldzuges“ ergaben, wurden einvernehmlich vorgenommen und mit einer gemeinsamen Parade der Wehrmacht und der Roten Armee in Brześć /Brest-Litowsk besiegelt. Am 28. September 1939 folgte der Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen beiden Mächten, worin sie das „Auseinanderfallen der bisherigen Polnischen Staates“ öffentlich feststellten. Geheim vereinbarten sie, „keine polnische Agitation auf ihren Gebieten“ zu dulden und sich gegenseitig über „zweckmäßige Maßnahmen“ dagegen zu unterrichten.
Brecht charakterisierte den Pravda-Artikel, der den Einmarsch rechtfertigte und dabei die Blutsverwandtschaft der slawischen Brüder (Weißrussen und Ukrainer) hervorhob, die es zu befreien gelte, als „aneignung der faschistischen heuchlereien“. Und er fügte hinzu: „der text ist wie von hitler revidiert.“[22] (Allerdings wiederholte die Pravda nur die Argumentation der Note der Sowjetregierung an die europäischen Regierungen vom 17. September 1939, deren Annahme der polnische Botschafter in Moskau verweigert hatte. In verschärfter Form findet sich dieselbe Argumentation auch in der Rede von Außenminister Molotov vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939 wieder, die, eines Sinnes mit Hitler, die Zerschlagung des polnischen Staates, dieser „Missgeburt des Versailler Vertrags“ feierte.[23])
In Brechts zugespitzter Formulierung schimmerte das Wissen über einen sonst verschwiegenen Hintergrund durch: An dieser Stelle mochte ihm die vertrackte Analogie im zynischen Gebrauch der Macht- und Propagandamittel beider Diktatoren gedämmert haben. Daraus öffentlich Schlussfolgerungen zu ziehen, gestattete er sich jedoch nicht, da er fand, Kritik an Stalins Sowjetunion arbeite über kurz oder lang dem „Weltfaschismus“ in die Hände. So blieb es beim Schubladentext.
Der antifaschistische Emigrant Brecht, auf der Flucht vor Hitlers Armeen „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“, war bei aller Klarsicht offenbar außerstande, sich in das Befinden der Völker zu versetzen, die die „geschichtlichen Spesen“, wie er es nannte, der Komplizenschaft beider Diktatoren zu tragen hatten: auf die Polen folgten die Litauer, Letten, Esten und in gewisser Weise die Finnen. Der marxistische Intellektuelle erschrak über die mit dem Pakt sich abzeichnende Möglichkeit, die Sowjetunion an der Seite Hitlerdeutschlands in den Krieg ziehen zu sehen – doch seine Hoffnung setzte er trotzdem beharrlich auf die Sowjetunion als die einzige Macht auf dem Kontinent, die in der Lage sei, Hitlers Vormarsch zu stoppen.
Auf die Krise seines ideologischen Projekts, die er öffentlich nicht artikulierte, scheint Brecht mit anderen, nämlich poetischen Mitteln geantwortet zu haben.
Der Kinderkreuzzug 1939
Brechts Ballade Kinderkreuzzug 1939 erschien erstmals im November 1941,[24] die Jahreszahl im Titel sowie die vierte Strophe verorten den erzählten Vorgang im Zeitraum zwischen 1. September 1939 und dem Winter 1939/40. Das Gedicht ist ein Szenenreigen über eine Gruppe elternloser Kinder, die sich aufmacht, dem Krieg zu entkommen und ein Land sucht, wo Frieden ist:
In Polen im Jahr Neununddreißig
War eine blutige Schlacht
Die hatte viele Städte und Dörfer
Zu einer Wildnis gemacht.
Die Schwester verlor den Bruder
Die Frau den Mann im Heer;
Zwischen Feuer und Trümmerstätte
Fand das Kind die Eltern nicht mehr.
Aus Polen ist nichts mehr gekommen
Nicht Brief noch Zeitungsbericht.
Doch in den östlichen Ländern
Läuft eine seltsame Geschicht.
Schnee fiel, als man sich’s erzählte
In einer östlichen Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.[25]
Durch die Aufnahme des mittelalterlichen Motivs des Kinderkreuzzuges und seine Aktualisierung in der Jahreszahl 1939 schafft der Titel einen Widerspruch. Brecht vertieft nicht die historische Analogie zum Kreuzzug von 1212, er benutzt sie zum Zweck der Steigerung: das Motiv ruft zwingend die Vision des Untergangs herbei. So wie jene Kinder, die vor Jahrhunderten aus Deutschland und Frankreich aufgebrochen waren, das Heilige Grab in Jerusalem zu befreien, verloren gingen, so geht auch jetzt das Häuflein umherirrender Kinder im kriegsverwüsteten Polen seinem Untergang entgegen. Ihre wesentliche Bestimmung, ihr Schicksal ist es, orientierungslos zu sein.[26] Sie wollen in ein Land, wo Frieden ist, aber sie kennen nicht die Richtung:
Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab die Chausseen
Und nahmen mit sich andere, die
In zerschossenen Dörfern stehn.
Sie wollten entrinnen den Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden war.
Die Form des Gedichts, die Ballade – ein Genre, das Brecht schon in seiner 1926 erschienenen Sammlung Hauspostille mehrfach aufgegriffen und aufgefrischt hatte – scheint das erzählte Geschehen auf den ersten Blick in historische Ferne zu rücken. Die Liedstrophe greift die Tradition der Volksballade auf, und von hier stammt auch eine gewisse mysteriös-phantastische Aura des Stoffs.
Brecht wählt hier nicht von ungefähr gerade diese Form, und nicht etwa die des „Berichts“, eines Gedichttypus’, der in seinem Oeuvre der 30er Jahre (nicht zuletzt in den später zusammengestellten Kalendergeschichten, die auch den Kinderkreuzzug enthalten) ebenfalls mehrfach anzutreffen ist.[27] Im „Bericht“ wird die poetische Mitteilung mit dokumentarischem Anspruch ausgestattet, der Erzählduktus ist sachbezogen-objektiv. Im Fall des Kinderkreuzzugs hätte dies verlangt, Ross und Reiter der zeitgeschichtlichen Umstände genauer zu benennen und deutlich Position zu ihnen zu beziehen. Doch das lief Brechts poetischen und politischen Intentionen offensichtlich zuwider.
Stattdessen erfindet er eine anonyme „seltsame Geschicht“, die in den östlichen Ländern in Umlauf gewesen sei, und formt daraus eine Erzählung zweiten Grades. Dabei ahmt die Erzählerstimme den kindlichen Duktus der Figuren nach, bleibt aber mit wenigen Ausnahmen zum Vorgang auf Distanz. Alles Geschehen spielt sich im beschränkten Horizont eines kleinen Alltags ab, reproduziert kindliche Vorstellungen von einem Leben, wo der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.
Welche Vorgänge, besser Szenen, stellt die Ballade dem Leser vor Augen? Eine Elfjährige betreut ein Kleinkind (Strophe 8); beim improvisierten Schulunterricht dient die Wand eines zerschossenen Panzers als Tafel für Schreibübungen (Strophe 12); es gibt auch eine ungehörige Liebe – „sie war zwölf, er fünfzehn Jahr“ –, die in der Kälte, der wirklichen und der symbolischen, nicht bestehen kann (Strophe 13–14). Weil die Kinder hungern, stehlen sie gelegentlich, und der Erzähler verurteilt sie nicht, auch nicht den armen Mann, der sich außerstande sieht, ein halbes Hundert Mäuler satt zu kriegen. Einen Hund, den sie zum Schlachten eingefangen haben, schleppen sie nun als zusätzlichen Esser mit (Strophe 11). Von ihm erhoffen sich die richtungslos Irrenden am Ende, dass er Hilfe herbeischafft – vergeblich (Strophe 32–35).
Die Kinder haben keine individuellen Namen. Ihre Bezeichnungen bilden die nationalen (Pole, Deutscher, Jude – ein Russe fehlt übrigens!), religiösen (Protestant, Katholik) und ideologischen (Nazi, Kommunist) Zuordnungen der Gesellschaft ab. Übertragen auf die Kinderwelt wirken die ideologischen Attribute der Erwachsenen grotesk. Das Handeln der Kinder sprengt die Verhaltensmuster der Erwachsenen, es wirft die ideologische und taktische Abschottung des Horizonts über den Haufen und öffnet ihn auf das Unmögliche:
Ein kleiner Jude marschierte im Trupp
Mit einem samtenen Kragen
Der war das weißeste Brot gewohnt
Und hat sich gut geschlagen
Und ging ein dünner Grauer mit
Hielt sich abseits in der Landschaft.
Er trug an einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus einer Nazigesandtschaft.
(…)
Da war auch ein Begräbnis
Eines Jungen mit samtenen Kragen
Der wurde von zwei Deutschen
Und zwei Polen zu Grab getragen.
Protestant, Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde einzuhändigen.
Und zum Schluß sprach ein kleiner Kommunist
Von der Zukunft der Lebendigen.
Diese poetische Utopie stellt die Zustände der bürgerlichen Gesellschaft bloß, die „erwachsene“ Moral, und eine Ideologie, welche lediglich die Machtinteressen der Machthaber rechtfertigt.
Ein poetischer Kommentar zur Zeitgeschichte
Für den größeren Teil der Brecht-Forschung, sei sie östlicher oder westlicher Provenienz, spielt der unmittelbare zeithistorische Kontext in der Interpretation des Kinderkreuzzugs keine große Rolle.[28] Dies ist insofern erstaunlich, als der Gedichttext selbst einige deutliche Hinweise gibt, die es nahe legen, ihn auch als Kommentar zum aktuellen politischen Geschehen zu lesen. „Wo einst das südöstliche Polen war…“, heißt es etwa in Strophe 27[29] – was die Frage aufwirft, was denn jetzt, im Herbst 1939, aus diesem Landstrich geworden ist? Von Anfang an und in radikaler Weise ist der Kinderzug orientierungslos, das „Land, wo Frieden war“ liegt in keiner den Kindern bekannten Richtung. Ihr kleiner Führer weiß den Weg nicht, der verwundete Soldat kann ihn nicht weisen (Strophe 20–21), so ziehen sie dorthin, wo die Sonne mittags steht und wo es warm ist, nach Süden. Warum aber nicht nach Osten, unter den Schutz der Friedensmacht Sowjetunion? Die Verlorenheit der Kinder lässt sich auch als Reflex jener allgemeinen Orientierungslosigkeit zu erkennen, von der Brecht nach Abschluss des Paktes in Bezug auf die Proletarier und die kommunistischen Parteien Westeuropas gesprochen hat – der dichterische Text verrät hier mehr, als sein politisch räsonierender Autor öffentlich äußern wollte.
Aus Polen sei weder Brief noch Zeitungsbericht gekommen, vermeldet die Erzählerstimme in der Ballade. Polnische Zeitzeugen schildern Ähnliches in Bezug auf die sowjetische Besatzung, die im östlichen Landesteil eine Informationsblockade nach innen und nach außen verhängte:
„Dass es einen Bahnverkehr gab, blieb ein Staatsgeheimnis. Reisende bestiegen den Zug, wussten aber nicht, wohin sie fuhren. Selbst die Zugschaffner, ehemalige polnische Angestellte, kannten zwar die allgemeine Richtung, aber nicht das Reiseziel.“ [30]
Die „Wildnis“, zu der das Land durch den Krieg gemacht wurde (Strophe 1), lässt sich auch so verstehen, dass seine staatliche Struktur, seine nationale Organisation ausgelöscht wurde. Offen bleibt im Gedicht allerdings, durch wen: „Einmal rollten drei Tanks vorbei/ Da waren Menschen drin“ (Strophe 25). Menschen? Eine seltsame Formulierung; wen sonst konnte man darin vermuten. Waren es deutsche oder sowjetische Panzerfahrer? Die Kinder jedenfalls haben Grund, gegenüber allen Erwachsenen misstrauisch zu sein:
Einmal, nachts, sahen sie ein Feuer
Da gingen sie nicht hin.
Einmal rollten drei Tanks vorbei
Da waren Menschen drin.
Einmal kamen sie an eine Stadt
Da machten sie einen Bogen.
Bis sie daran vorüber waren
Sind sie nur nachts weitergezogen.
Dort, „wo einst das südöstliche Polen war“, sind nach dem 17. September 1939 Besatzer und Befreier ununterscheidbar geworden. Wer der verwundete Soldat ist, der den Kindern den Weg weist, wissen wir nicht. Den Sprecher mit dem Kinderblick scheint seine militärische Identität nicht zu interessieren: Es zählt nur, dass er verwundet ist, stirbt und begraben werden muss.
Mit der Nennung des Ortes Bilgoray ist das Balladengeschehen geographisch, aber auch politisch genauer lokalisiert. Der stets politisch denkende Brecht hat sich gewiss nicht allein vom exotischen Klang dieses Namens leiten lassen, als er ihn ins Gedicht aufnahm. Wovon aber stattdessen? Orte in Südostpolen wie z.B. Drohobycz (die Stadt von Bruno Schulz), Stanisławów oder gar Lemberg konnte er nicht nennen, ohne dass sein Gedicht direkt auf den Einmarsch der Roten Armee dort bezogen worden wäre – das verbot die politische List. Hätte er die Aufmerksamkeit des Lesers aber auf den deutschen Überfall lenken wollen, hätten sich als Orientierungspunkte wohl eher Orte in Zentralpolen angeboten, z. B. Kalisz oder Radom. Bilgoray (eigentlich Biłgoraj) dagegen ist ein Städtchen dicht an der Demarkationslinie zwischen dem deutschen und sowjetischen Machtbereich, es liegt nur ca. 50 km von der sowjetisch besetzten Zone entfernt.
Ahnung, Wissen und Blindheit
Der Kinderkreuzzug 1939 war keine beiläufige literarische Produktion. Brecht maß ihm eine besondere Bedeutung bei, was sich daran ablesen lässt, dass er sich bemühte, ihm eine breite Wirkung zu verschaffen. Er versuchte Kurt Weil in Amerika für eine Vertonung zu gewinnen, was allerdings nicht gelang. Sehr aufmerksam verfolgte er die Arbeit an der englischen Übersetzung, die Ruth Berlau, seine Mitarbeiterin und Geliebte, vermittelt hatte. Er hatte wohl selbst gehofft, aus der Ballade eine Filmstory zu machen, aber als die Berlau ihm die Idee unterbreitete, aus dem Stoff einen Roman zu entwickeln, griff er sie bereitwillig auf und machte entsprechende Vorschläge. Nach dem Ende des Krieges 1945 überreichte er den Kinderkreuzzug als ein persönliches Geschenk seinem Verleger Peter Suhrkamp, der sein Freund werden sollte.
Die Ballade liest sich in weiten Teilen wie ein poetischer Traum, dem die Sehnsucht nach dem Besseren zugrunde liegt. So wie beim jungen Brecht der Hauspostille die Abenteurer „grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren/ Immer das Land, wo es besser zu leben ist“ suchen, so strebt hier ein bunt zusammen gewürfelter Trupp Kinder nach einem Land „wo Frieden ist“. Sie werden es nicht finden. Aber unterwegs erproben sie die Umrisse einer Gegenwelt der Menschenfreundlichkeit, die gänzlich a-ideologisch und fern von jedem Machtpoker ist. Auf der Handlungsebene scheitert der Zug der Kinder wie schon der historische Kreuzzug im 13. Jahrhundert. Aber es bleibt das utopische Bewusstsein vom Frieden, dem Ort und Stelle fehlen.
Zugleich ist die Ballade auch ein durchaus zeitbezogener Text, der die im Arbeitsjournal explizit benannten Ereignisse zwar nur verschlüsselt zur Sprache bringt, der aber kraft seiner impliziten Botschaft gleichzeitig deutlich über diese hinausgeht. Versuchte Brecht dort, im unveröffentlichten Arbeitsjournal, den Zynismus der Stalinschen Machtpolitik zu rationalisieren, so spricht hier, im Gedicht, die poetische Utopie den Frieden als das Unbedingte und das Vergebliche an, nachdem die letzte Chance, ihn in der Wirklichkeit des Jahres 1939 zu bewahren, verraten worden ist. Während der grundlegende ideologische Gegensatz zwischen Faschismus und Kommunismus in der Realität durch einen Akt bloßer Machtpolitik zugedeckt wurde, behandelt die Ballade ihn anders: Die Unschuld der Kinder, die von Ideologie nichts weiß, legt ganz nebenbei die existentielle Belanglosigkeit des ideologischen Systemgegensatzes bloß.
Für den Dialektiker Brecht schlossen sich Ahnung und Wissen nicht aus. Die Spannungsverhältnisse zwischen dem Arbeitsjournal und dem Kinderkreuzzug 1939 sowie innerhalb der beiden Texte sind insofern durchaus charakteristisch für ihn. Umso erstaunlicher, dass sie im Osten wie im Westen praktisch nie thematisiert wurden. Im Osten war das Schweigen, das den Hitler-Stalin-Pakt selbst und Brechts ideologische und poetische Auseinandersetzung damit umgab, von der politischen Macht verhängt. Im Westen dagegen ist es schwerer zu erklären. Wenn ein Kommentar zum Kinderkreuzzug 1939 in der 1998 in Darmstadt erschienenen Werkausgabe lautet:
Bilgoray. Poln. Kleinstadt ca. 80 km südlich von Lublin, liegt 1939 an der Grenze zwischen dem faschistisch besetzten Polen und der sowjetischen Westukraine,[31]
so klingt das wie aus der Sowjetenzyklopädie abgeschrieben.
Auch über die Brecht-Forschung hinaus hat die deutsche Öffentlichkeit beim Thema Hitler-Stalin-Pakt offensichtlich vielfach Defizite. Brecht selbst repräsentiert insofern exemplarisch eine linke deutsche Erinnerungskultur, die von der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Antifaschismus und Anti-Stalinismus gespalten ist. Dieselbe Spaltung betrifft nicht zuletzt auch die Rezeption seines Werkes.
In vielerlei Hinsicht aufschlussreich ist ein Blick auf die Rezeption der Gedichte und der Stücke Brechts in Polen. Der Kinderkreuzzug 1939, erstmals 1954 in einer guten Übersetzung von Artur Maria Swinarski erschienen, berührte ein Tabu, das man lieber verschwieg als interpretierte. An zwei Punkten war das Gedicht zeitgeschichtlich entschärft worden; im Titel fehlte die Jahresangabe und die 27 Strophe, mit Erwähnung des „einstigen“ südöstlichen Polen, war so geglättet, dass dahinter Absicht vermutet werden kann. Diese Übersetzung wurde später unverändert nachgedruckt. Erst ein Brecht-Gedichtband von 1980, eingerichtet und übersetzt von Robert Stiller, brachte die besagte Strophe in einer gegenüber dem Original adäquaten Fassung, und der Herausgeber beteuerte ohne nähere Begründung, dass dieses besondere Gedicht in Polen sehr bekannt sei.[32] Für Brechts Lyrik insgesamt konnte das nicht gelten. Was nach dem Krieg übersetzt wurde, waren politische Gedichte mit agitatorischem Duktus. Man betrachtete ihn nur als einen Dichter der DDR, seine Lyrik konnte daher den Geruch des offiziell Akzeptierten schlecht abstreifen, womit Leser leichter zu vergraulen als zu gewinnen waren. Das Frühwerk, die kraftvoll-anarchische Lyrik der Hauspostille blieb bis in die achtziger Jahre unbeachtet. In den siebziger Jahren festigte sich in der polnische Kritik das Vor-(Urteil), Brechts Poesie sei trockene Belehrung, die dem eisernen Syllogismus folgt, was nicht nur Vereinfachung der Form bedeute, sondern auch Simplifizierung der Probleme. Die Poetik lakonischer Askese, die Brecht seit den Svendborger Gedichten der 30er Jahre pflegte, empfand man als zu nüchtern und publizistisch und im Vergleich mit anderen Dichtern arm an stilistischer Brillanz oder kultur-symbolischer Aufladung. Nach den deprimierenden Erfahrungen mit dem eigenen sozialistischen Realismus, der politische Lyrik nur als stupide Agitation gelten ließ, wurden Brechts Gedichte unbesehen in die Nähe eines solchen Poesiemodells gerückt.
Das erste Gastspiel des Berliner Ensembles in Polen fand 1952 statt. Im Anschluss daran entspann sich eine lebhafte Debatte, in der es hauptsächlich um die Mutter Courage ging. Die Kritik sprach sich für und wider die Neuerungen des epischen Theaters aus und wollte in der Aufführung „Pazifismus“, „Formalismus“, die Moral des Lumpenproletariats sowie eine mechanische, pessimistische Geschichtsauffassung entdeckt haben. Die Diskussion erweckte den Eindruck, als folgte sie den kulturpolitischen Vorgaben aus der DDR, die von Brecht eine „formale Vorbildästhetik“ verlangten – dies stimmte aber nur zum Teil.[33] Beim polnischen Publikum, meinten die Kritiker, habe das Stück gemischte Gefühle ausgelöst, einmal durch seine epische Eigenart, zum anderen durch die historisch unbestimmte Darstellung des Dreißigjährigen Krieges, der als ein abstraktes Geschäft („Und statt mit Käse ists mit Blei“) abläuft. Zwar rollt der Planwagen der Courage durch mehrere Länder Europas, aber die geographischen, zivilisatorischen und kulturellen Unterschiede der jeweiligen Gegend nehme das Stück nicht ernst. Es bleibt bei den Schrifttafeln mit den Namen der Länder.
Aus dem privaten Blickwinkel einer beschränkten und amoralischen Hauptfigur, die nach Meinung der Kritik nicht einmal als Opfer des Krieges anzusprechen sei, sondern als Parasit, der freiwillig daran teilnimmt, zeichne sich der Krieg als ein Naturschauspiel ab, unerklärlich und unabwendbar. Den polnischen Zuschauern indessen, sei es keineswegs gleichgültig, um welche Art Krieg es hier ging, war es ein Eroberungs- oder ein Verteidigungskrieg? Das Fazit, welches das Stück nahe legt: der Krieg ist ein schlechtes Geschäft, nannte man einen „hanebüchenen Schluss“, der in einem moralischen Vakuum erfolgt. Durch die Anlage der Hauptfigur sei der Horizont des Stückes geistig und moralisch beschränkt, es fehle eine Figur von überzeugender Menschlichkeit. Von diesem Urteil ausgenommen, war nur die stumme Kattrin, die das polnische Publikum dadurch “ungeheuer stark beeindruckt“ habe, da sie als einzige bereit gewesen sei, für eine gerechte Sache ihr Leben zu opfern. Alles in allem, so resümierte ein Kritiker anlässlich der Aufführung, sollte man beachten, dass das Stück den innerlich zerrissenen Deutschen ein Selbstbildnis vorhält. Es zeige sich allerdings, dass in Deutschland nach wie vor ein anderer Ton herrsche, „als er bei uns gilt“. [34]
Fasst man die Stimmen der Kritik zusammen, so drängt sich der Eindruck auf, dass die zahlreich ins Feld geführten ideologischen Argumente als zeitbedingte Spiegelfechterei sich in Klammen nehmen lassen. Es waren Vorwände. Ein anderer, entscheidender innerer Vorbehalt dürfte dahinter gestanden haben und der galt Brechts rationalistisch-pragmatischer, von Zynismus nicht freier Denkungsart, in der Feigheit als Tugend und Heldentum als unvernünftig betrachtet werden. Das widersprach der tradierten Wertvorstellung, dem patriotischen Habitus und den jüngsten Erfahrungen der Polen im Zweiten Weltkrieg.
Der hier abgehandelte Fall ist literarisch und singulär. Er berührt jedoch, wie es scheint, eine historisch wie aktuell prägende kulturelle Differenz. Ohne die romantische Entschlossenheit aufs Ganze zu gehen, woraus sich der Freiheitskampf in der Zeit der Teilungen nährte, ohne den unbeugsamen Widerstandswillen gegen die überlegenen Aggressoren und Besatzer im 2. Weltkrieg, ohne die verinnerlichte Tradition des notwendigen Opfers für die Freiheit bleibt am Ende auch der Wagemut unbegriffen, mit dem die Solidarność 1980 der Parteidiktatur in Warschau und Moskau die Stirn geboten hat.
[1] Der 8. Mai 1945. Das Ende des Kalten Krieges und die Einigung Europas. Podiumsdiskussion mit Rudolf von Thadden, Egon Bahr, Andrzej Byrt, Konstantin Asadowski, Grigorijs Krupnikovs und Michael Werner. In: Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945. Hrsg. von Rudolf von Thadden; Steffen Kaudelka. Göttingen 2006, S. 103, 107–108.
[2] Ebenda, S.109.
[3] Stefan Troebst: Das Jahr 1945 als europäischer Erinnerungsort. In: Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. Hrsg. von Burkhard Olschowsky u.a. München 2011, S. 251.
[4] Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erinnerung. In: OSTEUROPA (2009), Nr. 7-8.
[5] Bertolt Brecht: Arbeitsjournal 1938–1955. Hrsg. von Werner Hecht. Mit einem Nachwort von Werner Mittenzwei. Berlin und Weimar 1977, hier S. 37, Eintrag vom 9. 9. 1939.
[6] Ebenda, S. 36.
[7] Ebenda, S. 37, Eintrag vom 9. 9. 1939.
[8] Ebenda, S. 38. vom 9. 9. 1939.
[9] Ebenda, S. 37, vom 7. 9. 1939.
[10] Ebenda, S. 39.
[11] Ebenda, S. 39.
[12] Gerhard Wagner: Die Weimarer Republik und die Republik Polen 1919–1932. Probleme ihrer politischen Beziehungen. In: Die deutsch polnischen Beziehungen 1919–1932. Redaktion: Wolfgang Jacobmeyer. [= Schriftenreihe des G. Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bb.22/VIII]. Braunschweig 1985, S.37.
[13] Brecht (wie Anm. 11), S. 36.
[14] Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Berlin 1957 (Heft 9 der Versuche), S. 18.
[15] Władysław Broniewski: Bajonett aufgesetzt. In: Heinrich Olschowsky: Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 89.
[16] Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd.1. Berlin und Weimar 1968, S.15
[17] Władysław Broniewski: Tagebuch 1918 – 1922. Hrsg. von Feliksa Lichodziejewska.
Warszawa 1987, S. 61.
[18] Konstanty Ildefons Gałczyński: Lied von den Soldaten der Westerplatte. In: Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten. Hrsg. von Henryk Bereska; Heinrich Olschowsky. Berlin und Weimar 1975, S. 178.
[19] Czesław Miłosz: Poetischer Traktat mit meinem Kommentar. Kraków 2001, S. 63.
[20] Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 175.
[21] Zofia Nałkowska: Tagebücher 1939–1944. Warszawa 1996, S. 32. (Übersetzung Heinrich Olschowsky.)
[22] Brecht, Arbeitsjournal [Fn. 4], S. 39, 40. Eintrag vom 18. und 19. 9. 39 – Siehe Pravda, 17.9.1939.
[23] Wojciech Roszkowski: Die Geschichte Polens (1914–2004). Warszawa 1995, S. 94 .
[24] Bertolt Brecht: Kinderkreuzzug 1939. In: Werke Bd. XV, Gedichte Bd. 5. Darmstadt 1998, S. 50. Von den verschiedenen Fassungen gilt die mit 35 Strophen in der Auswahl „Hundert Gedichte“ (Berlin 1951) von Wieland Herzfelde als kanonisch. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe
[25] Ebd.
[26] Vgl. Paola Barbou: Kommentar zum Kinderkreuzzug 1939. In: Brecht-Handbuch. Hrsg. von Jan Knopf. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart, Weimar 2004. S. 351. – Die Chiffre Kind verwendet Brecht häufig zur Verfremdung bestimmter Inhalte: Als Kinderhymne erschien z. B. 1950 ein Gedicht, das Brecht als ernste Alternative zur Johannes R. Bechers Nationalhymne der DDR sah.
[27] Beispiele sind etwa die Teppichweber von Kujan-Bulak oder Kohlen für Mike.
[28] Siehe Silvia Schlenstedt: Kinderkreuzzug 1993. In: Weimarer Beiträge, Brecht-Sonderheft 1968, S. 12–38. – Christiane Bohnert: Brechts Lyrik im Kontext. Zyklen und Exil. Königstein/Taunus 1982. – Barbara Buhl: Bilder der Zukunft: Traum und Plan. Utopie im Werk Bertolt Brechts. Bielefeld 1988. – Werner Hecht: Brechts Leben in schwierigen Zeiten. Geschichten. Frankfurt a. Main 2007, S. 11–25.
[29] „Wo einst das südöstliche Polen war / Bei starkem Schneewehen / Hat man die fünfundfünfzig / Zuletzt gesehn.“ Brecht: Hundert Gedichte. Berlin udnd Weimar 1966, S. 84.
[30] Ein im Osten Geretteter. Gespräch von Piotr Szewc mit Julian Stryjkowski. Montricher 1991, S. 98. (Übersetzung Heinrich Olschowsky.)
[31] Brecht, Werke Bd. XV, Gedichte Bd. 5 [Fn. 23], Kommentar, S. 342.
[32] Bertolt Brecht: /Poezje wybrane/ Ausgewählte Gedichte. Ausgewählt und aus dem Deutschen übertragen von Robert Stiller. Warszawa 1980.
[33] Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder der Umgang mit den Welträtseln. Berlin 1987, Bd. 2. S. 328-338.
[34] Die Brecht-Debatte (Jerzy Pomianowski, Zygmunt Kałużyński, Julian Stryjkowski – alle 1953). In: Annäherung und Distanz. DDR-Literatur in der polnischen Literaturkritik. Hrsg. von Manfred Diersch; Hubert Orłowski. Halle-Leipzig 1983, S. 137, 146, 133.